Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
Vom Netzwerk:
Geschwür. Er hatte recht. Aber es war nicht nur das. Denn auch nach der notwendigen Ernährungsumstellung, worauf die Schmerzen abklangen, ging es Mutter nicht gut. Sie hatte noch nie viel unternommen, jetzt aber verließ sie das Haus gar nicht mehr. Wenn ich Mutters Kummer sah – der nur das Echo von Minas Kummer war –, fühlte ich mich in meiner Überzeugung bestärkt, dass ich die Schuld daran trug: Hätte ich an jenem verhängnisvollen Abend Imran nicht diese Dinge über die Juden erzählt, hätte ich das Telegramm nicht verschickt, hätte Mina wahrscheinlich Nathan geheiratet. Ich verstand nicht mehr, was daran so falsch gewesen wäre. Zumindest wären sie und Mutter jetzt glücklicher. Und selbst wenn ihr Vater ihr wegen dieser Hochzeit sämtliche Knochen gebrochen hätte, wäre das noch immer besser gewesen, als von Sunil regelmäßig an Leib und Seele verletzt zu werden.
    Schweigend ertrug ich meine Schuld. Noch immer hatte ich niemandem von dem Telegramm erzählt. Aber mein Geheimnis hielt auch einigen Trost bereit, wie ich feststellte. Denn zumindest war es etwas, worüber ich die Kontrolle hatte. Mein Leid wurde dadurch zu etwas, was ganz und gar mir gehörte und was von nun an meine Entscheidungen zu beeinflussen begann. Im ersten Jahr in der Middle School hörte ich, wie jemand im Flur erwähnte, Simon Felsenthal, der schüchterne Junge mit den dicken Brillengläsern, der in Sozialkunde ganz hinten saß, sei ein Jude. Obwohl mir Simon bis dahin kaum aufgefallen war, setzte ich nun alles daran, ihn zu meinem besten Freund zu machen. Um dann festzustellen, dass ich mich mehr mit seinem Glauben beschäftigte als er selbst. Simon selbst interessierte sich vor allem für Videospiele. Er brachte mich von Atari ab und führte mich in die feinsinnigeren Genüsse der Intellivision ein. Er war der Erste, bei dem ich übernachtete, und ich erinnere mich, damals gedacht zu haben, dass sich seine Eltern – zwei lebhafte Leutchen, die sich ständig zankten – kaum von meinen unterschieden. Und ich musste an meinen Traum vom Propheten damals im Krankenhaus denken und wie sehr es mich verwirrt hatte, warum Allah die Juden so sehr hasste. Was für mich jetzt noch widersinniger war als jemals zuvor.
    Minas Lage verschlechterte sich im Lauf der Jahre zusehends. Am Ende der High School – nachdem sie fünf Jahre mit Sunil verheiratet war – reichte es schon, wenn ihr Namen erwähnt wurde, und ich fiel in eine tagelange Depression. Dabei ging es auch gar nicht mehr nur um Mina. Meine Seele entwuchs dem kindlichen Gewand, mit dem meine islamische Kindheit mich ausgestattet hatte. Auf die Schrecken der Nacktheit aber war ich nicht vorbereitet. In einem Eisladen, den ich eines Abends mit Freunden aufsuchte, fiel mir auf, dass die Verkäuferin ihr Gesicht dick mit Make-up kaschiert hatte und ein Auge geschwollen war. Die Haut unter der Schminke war unverkennbar schwarz und blau. Jemand schlägt sie , schoss mir durch den Kopf. Mir wurde speiübel. Ich nahm mein Eis und ging zu meinen Freunden raus auf den Parkplatz. Aus der Übelkeit wurde Schwindel, dann Trauer. Kurz darauf machte ich mich aus dem Staub, marschierte los und setzte mich neben den Müllcontainer des Lebensmittelladens, wo ich hemmungslos losflennte. Und während ich so weinte, sah ich hinauf in den dunklen, stillen Himmel, der von winzigen, funkelnden Lichtern übersät war – wie von Glühwürmchen, über die mein Vater sich so gefreut hatte. Mein Herz sehnte sich danach zu beten. Ich hob die Hände, wie es Muslime tun, und versuchte, das innige Feuer heraufzubeschwören, an das ich mich noch so gut erinnern konnte, damals, als Mina bei uns gewohnt hatte. Aber meine Worte klangen hohl. Als würden sie zu Taubstummen gesprochen oder, noch schlimmer, zu überhaupt niemandem.
    Wenn Mina jetzt anrief, verließ ich das Haus. Ich konnte ihre schwache Stimme, die stets zerbrechlicher klang, nicht mehr ertragen. Immer hörte ich nur meine Schuld heraus. Zahllose Male hatte ich mich bei ihr am Telefon für das, was ich über Nathan gesagt hatte, zu entschuldigen versucht – das Telegramm hatte ich nie erwähnt –, aber Mina blieb stur: Das alles liege nun hinter uns, sagte sie. Ich solle nach vorn schauen. Also versuchte ich es. Ich bat Mutter, mir nicht mehr zu erzählen, wie es ihrer besten Freundin ging. »Es tut so weh«, gestand ich. Mutter schien es zu verstehen. Und eine Zeit lang musste ich nicht an meine Tante Mina denken oder wurde nicht daran

Weitere Kostenlose Bücher