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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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verdient haben. Allah liebt uns. Er will, dass wir loslassen …«
    Ich kam nicht mehr mit; sie bemerkte es. Wieder wischte sie mir mit dem Ärmel über das Gesicht und sagte dann mit plötzlich freudiger Stimme: »Hast du auf irgendetwas Lust … außer mir beim Lesen zuzusehen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Denk nach.«
    »Worüber?«
    »Gibt es etwas, was du jetzt und auf der Stelle tun möchtest …«
    »Weiß nicht.«
    »Wenn du es nicht weißt, gibt es eine ganz einfache Möglichkeit, es herauszufinden.«
    »Wie?«
    »Lass die leise Stimme in dir sprechen.«
    Ich war verdutzt.
    »Ich zeige es dir. Mach die Augen zu …«
    Ich schloss die Augen.
    »Was hörst du jetzt?«
    »Deine Stimme.«
    »Was noch?«
    Ich lauschte. Gedämpft war ein Auto zu hören, das draußen vorbeifuhr. »Ein Auto auf der Straße«, sagte ich.
    »Was noch?«
    Ich drehte den Kopf zur Seite und lauschte noch mehr.
    »Hörst du noch etwas?«
    »Nein.«
    »Deinen eigenen Atem, Behta ? Hörst du ihn?«
    Ich lauschte. Ich konnte ihn hören. Sacht, gleichmäßig. Ein, aus. Ich nickte.
    »Hör auf deinen Atem«, sagte sie leise.
    Ich konzentrierte mich, lauschte, glaubte einen Hohlraum in mir zu hören, der sich leise füllte und leerte.
    »Hörst du die Stille, Behta ?«
    »Stille?«
    »Am Ende vom Ein- und Ausatmen.«
    Ich atmete ein und lauschte. Sie hatte recht. Am Ende jedes Ein- und Ausatmens herrschte Stille. Ich nickte.
    »Wenn du diese Stille hörst, Behta , dann bleibe dort. Und dann stell dir die Frage: ›Was will ich?‹ Sag dir in diese Stille hinein: ›Was will ich jetzt tun?‹«
    Ich atmete ein, atmete aus und wartete auf die Stille danach. Die schimmernde, hell pulsierende, lebendige Ruhe.
    Was will ich tun? , flüsterte ich mir zu.
    Und dann sah ich etwas vor mir: mein rotes Schwinn-Typhoon-Eingangrad. Der Rahmen glänzte, es war so sauber wie an dem Tag, an dem meine Eltern es nach Hause gebracht hatten.
    Ich riss die Augen auf. »Ich möchte mein Rad putzen!«, rief ich aus.
    »Gut, Behta . Geh und putz dein Rad. Und dann dreh eine Runde. Hab deinen Spaß.«
    Ich stürmte durch die Tür hinaus in die Garage, schob mein Fahrrad auf die Einfahrt und füllte einen Eimer mit Wasser und Putzmittel. Ich schäumte den Rahmen und die Räder ein und spritzte alles mit dem Gartenschlauch ab. Danach war mein Rad genau so, wie ich es vor mir gesehen hatte: rot, leuchtend, funkelnd.
    Ich sprang auf und radelte davon. Ich war in Hochstimmung. Das Eiscreme-Fest hatte ich völlig vergessen. Die anschließende Fahrt durchs Viertel war alles andere als alltäglich, aber das lag nicht an irgendeiner bemerkenswerten Begegnung unterwegs, sondern an der Zufriedenheit, die sich während der Fahrt einstellte. Ich ergötzte mich an den einfachsten Dingen: dem gefleckten Teer, der unter meinen Rädern dahinsauste, dem Fahrtwind in meinem Gesicht, dem Druck der Pedale gegen meine Sohlen. Mehr bedurfte es nicht, als diese Dinge wahrzunehmen. Ich fühlte mich eins mit mir und konnte mich nicht erinnern, jemals so empfunden zu haben.

3
    DIE ERÖFFNUNG
    I mran war ein merkwürdiges Kind. Für einen Vierjährigen war er ungewöhnlich in sich gekehrt und hielt sich manchmal stundenlang in seinem Zimmer auf, wo er still vor sich hin spielte, umgeben von Zeichen- und Buntstiften, die anscheinend das Einzige waren, woran er seine Freude hatte. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass er Minas Sohn war, und das lag nicht nur daran, dass er nichts von ihrer Ausgelassenheit oder Anziehungskraft hatte. Mit seinen dunklen Haaren, der dunklen Hautfarbe, den eng zusammenstehenden Äuglein und seinen scharfgeschnittenen Gesichtszügen sah er ihr überhaupt nicht ähnlich. Mutter wollte, dass ich ihn »unter meine Fittiche« nahm und ihn wie den kleinen Bruder behandelte, den ich nicht hatte. Ich bemühte mich nach Kräften. Ich spielte mit ihm. Ich lieh ihm meinen besonderen Baseballhandschuh, den ich sonst niemandem lieh. Ich ertrug seine Wutanfälle, wenn er bei unseren Dame- oder Schachpartien verlor. Ich las ihm in den Burgen, die wir im Fernsehzimmer aus Bettlaken bauten, Geschichten vor, auch wenn ich keine Lust dazu hatte. Aber egal, was wir machten, er schien mir nie seine ganze Aufmerksamkeit zu schenken. Früher oder später wurde ihm langweilig, und er verzog sich in sein Zimmer. Mehr als einmal folgte ich ihm, er lag dann auf dem Bett, hatte ein Malbuch auf dem Schoß und murmelte dem Schwarz-Weiß-Foto zu, das gegen die Nachttischlampe gelehnt war.
    Wenn

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