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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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bereits die Nachttischlampe heruntergedimmt, damit wir in die richtige Stimmung kamen, wir kuschelten uns aneinander, und dann begann sie:
    »Es war einmal …«
    Ich liebte ihre Stimme. Und ich mochte es, ihr so nahe zu sein. Von nun an freute ich mich den ganzen Tag auf diese Abendstunde, in der ich neben ihr lag, ihren schwachen, süßlichen, an Jasmin erinnernden Duft einsog und mit geschlossenen Augen ihrer leisen Stimme lauschte, mit der sie uns Gutenachtgeschichten erzählte.
    War Imran noch wach, begann Mina mit einer Geschichte über Dschinns. Dschinns waren Wesen, die laut dem Koran nicht wie wir Menschen aus Lehm geschaffen waren, sondern aus Feuer, und die nach Belieben ihre Gestalt ändern konnten. Mina erzählte uns von Dschinns, die groß waren wie Bäume, und von anderen, die schwarze Gewänder trugen und Glocken als Hände hatten, und von wieder anderen, die so schnell wie der Wind waren und im Morgengrauen Bauern aus dem Punjab von ihren Feldern jagten. Sie erzählte uns von einem – im ganzen Punjab berühmten – Dschinn namens Pichulpari, der in Gestalt einer Frau mit scharlachrotem Salwar über die Waldwege um Islamabad streifte. Pichulpari winkte Autofahrern zu, als würde er sich in Not befinden, und lockte hilfsbereite Seelen an den Straßenrand, wo er sie angriff. Manche der Opfer, sagte Mina, starben bei diesen Begegnungen. Mina kannte sogar einen Mann, der Pichulpari mit eigenen Augen gesehen hatte: Er hatte ihn als Frau beschrieben, die überhaupt nicht wie ein Mensch ausgesehen habe, ein Wesen mit langem Wolfsgesicht und mit Händen und Füßen, die seltsamerweise verkehrt herum an den Gliedmaßen saßen. Imran liebte diese Geschichten ebenso wie ich.
    Aber ihre Geschichten vom Propheten gefielen mir besser.
    Die meisten muslimischen Kinder meines Alters hätten die Geschichten aus Mohammeds Leben, die sie mir erzählte, bereits gekannt. Aber weder meine Mutter noch mein Vater waren besonders religiös, und wenn ich überhaupt Geschichten erzählt bekam, dann von meiner Mutter über die Geliebten meines Vaters. Insgeheim war meine Mutter ein gläubiger Mensch, aber das Leben mit Vater, für den Religion nur etwas für Dummköpfe war, hatte sie gelehrt, ihre religiösen Regungen für sich zu behalten. Laut meiner Mutter stammte Vaters Abneigung gegen den Glauben von seiner Mutter, deren Frömmigkeit Vorwand gewesen war, um ihre Kinder zu misshandeln: Sie hatte sie zum Morgengebet aus den Betten geprügelt und ihnen nichts zu essen gegeben, wenn sie ihre täglichen religiösen Studien nicht absolviert hatten. »Aber das heißt nicht, dass er nicht trotzdem an Allahmia glaubt«, versicherte mir Mutter. Als Mina herausfand, wie wenig ich über den Islam wusste, übernahm sie es freudig, diese Wissenslücke zu schließen.
    Die Kindheitsgeschichte unseres Propheten trieb ihr die Tränen in die Augen, egal, wie oft sie sie erzählte: ein kleiner arabischer Junge, der alles verloren hatte, was ein Junge nur verlieren konnte, dessen Vater schon tot war, als er zur Welt kam, und dessen Mutter starb, als er sechs Jahre alt wurde. Trotz dieser Schicksalsschläge war der kleine Mohammed niemals trübsinnig. Wo immer er auftauchte, konnten die Menschen nicht umhin, seine Gutmütigkeit zu rühmen, seine ungewöhnliche Ruhe und Gefasstheit und das besondere Licht, das in seinen Augen leuchtete. Dieses Licht, sagte Mina, empfing er kurz nach dem Tod seiner Mutter von Gott. Eines Nachmittags, als er mit Freunden spielte, erschienen drei rätselhafte, in Lichtschleier gehüllte Wesen – es waren Engel – und trugen ihn fort zu einem fernen Berg. Dort fasste der erste Engel Mohammed in die Brust und schnitt ihm den Bauch auf. Der junge Mohammed spürte keinen Schmerz, als die Hand des Engels in seinem Körper verschwand und schließlich mit dem klebrigen Knäuel seines Gedärms wieder zum Vorschein kam. Der Engel säuberte die Gedärme mit dem frischen Schnee aus einer magischen grünen Vase. Nun trat der zweite Engel an ihn heran und steckte die Hand in die noch immer offene Brust des Jungen. Er nahm Mohammeds Herz heraus, suchte darin herum und entnahm ihm einen kleinen schwarzen Klumpen. Dieser Klumpen, erklärte Mina, war der Same des Bösen, der in allen menschlichen Herzen liegt, aber nicht mehr in dem von Mohammed. Der dritte Engel trat heran und setzte alles wieder zusammen, legte die Organe an ihren Platz und verschloss die Brust. Der Engel erklärte, dass ihre Aufgabe damit beendet sei, und

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