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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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der Intensität, der Lebhaftigkeit in ihrem Blick, die auf dem Foto nur andeutungsweise zu erkennen gewesen war. Es war überwältigend.
    »Was ist los, Behta ?«, fragte sie belustigt und strich mir durch die Haare. »Hat es dir die Sprache verschlagen?«
    Ich grinste dämlich und nickte nur. Mir hatte es in der Tat die Sprache verschlagen.
    Im Garten vor unserem Haus gab es drei große knorrige Bäume, alte, wunderschöne Eichen. Sie standen in einer Reihe, wobei die beiden äußeren sich mit ihren Wipfeln dem Baum in der Mitte zuneigten, als wären sie drei alte Weiber – so sagte Mutter immer –, die die Köpfe zusammensteckten, um ihre Geheimnisse auszutauschen. Man hatte Mutter gesagt, dass sie zu nah am Haus stünden und das Dach Schaden nehmen könnte, falls bei einem Sturm Äste herunterkrachten. Man hatte ihr deshalb geraten, sie zu fällen. Aber Mutter liebte die Bäume. Sie und Mina blieben vor einem der Stämme stehen, während Vater Minas Gepäck ins Haus trug. Auch ich hatte eine Tasche in der Hand und blieb stehen, um umzugreifen.
    Mina hatte Imran auf den Armen – er tat so, als würde er schlafen, musterte mich in Wirklichkeit aber mit einem offenen Auge – und sah in die Krone hinauf. »Weißeichen«, sagte sie.
    »So was in der Art«, erwiderte Mutter. »Ulmen oder Eichen oder so was .«
    »Es sind Eichen, Bhaj . Weißeichen. Das sieht man an den Blättern.« Mina deutete darauf. »Im Frühling sind sie so rosa wie jetzt. So eine stand mitten im Hof der Bahnhofsschule, erinnerst du dich noch?« Mutters Blick schweifte in die Ferne. »Die Blätter waren genauso rosa wie hier, erinnerst du dich?«, fragte Mina.
    Mutter nickte. »Ich wusste doch, dass es einen Grund geben muss, warum ich sie nicht fällen lassen will.«
    Mina strich über den Stamm. »Muss hundert Jahre alt sein.«
    »Das hat der Baummensch auch gesagt.«
    An der Haustür rief Vater: »Ins grüne Zimmer, oder?«
    »Ja, Naveed«, rief Mutter zurück. Sie wandte sich an Mina, als er drinnen verschwunden war. »Wie oft habe ich ihm gesagt, wo wir dich unterbringen! Und trotzdem muss er nachfragen! Außerdem gibt es sowieso nur ein freies Zimmer.«
    Mina gluckste.
    »Los, Kurban «, sagte Mutter zu mir. »Bring deiner Tante die Tasche ins grüne Zimmer.«
    »In Ordnung, Mom.«
    Ich schleppte die Tasche ins Haus und die Treppe hinauf zum ersten Zimmer im Flur, das wir wegen des leuchtend gelb-grünen Teppichs das grüne Zimmer nannten. Wir hätten es auch das Zeichentrick-Zimmer nennen können, denn die Wände waren mit vier lebensgroßen Comicfiguren geschmückt – mit Goofy, Daffy Duck, Bugs Bunny und Schneewittchen –, die bereits da gewesen waren, als wir das Haus gekauft hatten. Wochen vor Minas Ankunft hatte Mutter davon gesprochen, einen neuen Teppich verlegen und die Wände neu tapezieren zu lassen. Vater hatte gesagt, er werde sich darum kümmern, aber nie etwas unternommen.
    Als nun Mina ihre Sachen aufs Bett legte, entschuldigte sich Mutter. »Ich wollte einen neuen Teppich reinlegen lassen. Naveed hat es mir versprochen.«
    »Aber warum?«
    »Die Farbe? Bekommst du keine Kopfschmerzen davon?«
    »Die ist wunderbar. Ich will nicht, dass du dir so viele Umstände machst.«
    »Es macht gar keine Umstände. Aber jetzt bist du hier, da können wir es zusammen machen. Du kannst dir eine Farbe aussuchen. Und wir überstreichen diese blöden Zeichentrickfiguren …«
    Mina sah zu mir. Ich stand mit ihren Sachen vor dem Schrank. »Was meinst du dazu, Behta ?«
    Um die Wahrheit zu sagen, mir hatten die Farbe des Teppichs und auch die Zeichentrickfiguren immer gefallen. Sie brachten etwas Leben in unser ansonsten unerbittlich düsteres Haus. Aber ich bekam keine Möglichkeit, darauf zu antworten. Mutter schaltete sich dazwischen. »Es ist nicht wichtig, was er dazu meint. Wichtig ist, was du denkst.«
    In diesem Augenblick tapste Imran, Minas vierjähriger Sohn, schlaftrunken von der Toilette ins Zimmer. Seine Füße waren unerklärlicherweise nass, mit seinen kurzen, schlurfenden Schritten hinterließ er dunkle Tapper auf dem knallgrünen Teppich. Mit weit geöffneten Augen sah er auf, und plötzlich lächelte er. Er trat an die Wand, streckte die Arme aus und drückte sich gegen Daffy Duck.
    Mutter und Mina tauschten einen Blick.
    »Oder wir lassen es einfach so, wie es ist«, sagte Mina.
    Mutter nickte. »Na, vielleicht ist das wirklich das Beste.«
    Mina und Imran litten an Jetlag. Am Nachmittag legten sie sich hin und

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