Himmelssucher - Roman
er mich in der Tür bemerkte, drehte er sich zu mir um und sagte stolz:
»Das ist Hamed, mein Dad.«
Imrans Bild seines Vaters zeigte einen gepflegten Mann mit weißem Oxford-Hemd, der den Betrachter sonderbar ansah; sein Gesichtsausdruck hätte mich erstaunt, hätte ich ihn nicht zahllose Male bei Imran selbst bemerkt: zwei kleine, scheinbar vor Angst weit aufgerissene Augen, darüber wölbte sich allerdings eine glatte, vollkommen sorglose Stirn; ebenso paradox erschien mir der Mund, der unbekümmert leicht offen stand, die Zungenspitze aber drängte sich nervös gegen die oberen Schneidezähne, als wollte sie sich durch die kleine Lücke zwischen ihnen schieben.
Imran hatte kaum mit dem Reden begonnen, als er schon nach seinem Vater fragte. Da er spürte, dass mehr dahintersteckte als die vage, beunruhigende Geschichte, die seine Mutter ihm erzählte – es hatte einmal einen Mann gegeben, der sein Vater gewesen war, doch der war fortgegangen, und daher hatte er jetzt keinen Vater mehr –, wandte er sich für Antworten an andere. Es dauerte nicht lange, bis jeder männliche Besucher im Haus von dem kleinen Jungen belagert wurde; Imran kletterte ihm auf den Schoß, ließ sich von ihm in den Arm nehmen und fragte: »Bist du mein Vater?«
Als Imran drei wurde, beschloss Mina, ihm das einzige Foto ihres Exmannes zu zeigen. Wie befürchtet, bestärkte ihn das Bild noch in seiner Besessenheit. Abend für Abend wollte er nur noch einschlafen, wenn seine Mutter das Foto holte und es gegen die Nachttischlampe lehnte. Er sprach mit dem Foto und stellte die Fragen, die seine Mutter ihm nie beantworten konnte: Wo war er? Wann würde er zurückkommen? Es brach Mina das Herz, ihren Sohn mit einem Foto reden zu sehen, und wenn sie ihn zudeckte, geschah es daher immer mit einem Versprechen: Eines Tages würde sie für Imran einen Mann finden, der sein Vater werden würde.
Nach einigen Wochen bemerkte ich, dass Imran sich angewöhnt hatte, abends auf der untersten Stufe der Treppe im Flur zu sitzen und auf Vater zu warten. Und wenn er Vaters Wagen in der Einfahrt und das Quietschen des Garagentors hörte, war er bereits auf den Beinen, sprang vor der Tür herum und konnte es kaum erwarten, dass sie geöffnet wurde. Dann erschien Vater, ließ seinen Aktenkoffer zu Boden fallen, hob den Jungen hoch und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Du bist wieder da!«, piepste Imran voller Freude. Damit begann ihre abendliche Tour durchs Haus. Sie sahen in der Küche bei Mutter nach, die das Abendessen zubereitete, spähten in die dampfenden Töpfe und in den Herd, wo ordentlich aufgereihte Nans aufgewärmt wurden. Sie warfen einen Blick in die einzelnen Zimmer – in meines, in das von Mina –, wo sie kurz verweilten und sich erkundigten, wie der Tag verlaufen war und was wir unternommen hatten, während Imran in den Armen meines Vaters auf und ab hopste. Dann verschwanden sie im Schlafzimmer meiner Eltern, wo Vater Imran auf dem Bett absetzte, während er in Jeans und Sweatshirt schlüpfte und sie beide lachten und herumalberten und bis zur Essenszeit spielten.
Vater sah viel von sich selbst in dem Jungen und war nicht der Einzige, der meinte, selbst im zarten Alter von vier weise Imran mehr Ähnlichkeiten mit ihm auf als ich, sein leiblicher Sohn. Mutter bekräftigte ständig, wie ähnlich ihre Hände und Füße seien, ihre kurzen Finger und Zehen mit den stummeligen Nägeln, die niemals recht wachsen wollten, und wie eng ihre ungewöhnlich hellen Augen zusammenstünden. Mutter meinte, in ihrem Blick liege eine Intensität, die von hoher Intelligenz zeuge und von der Imran eines Tages hoffentlich besseren Gebrauch mache als Vater.
Es war befremdend, wie herzlich Vater mit dem Jungen umging. Es hatte mir einen Stich versetzt, als er Imran zum ersten Mal mit dem Kosewort » Kurban « angesprochen hatte, und es sollte nicht das letzte Mal sein. Aber wenn ich damit meinen Frieden schloss und sich meine Eifersucht auf Imran und die Aufmerksamkeit, die Vater ihm entgegenbrachte, in Grenzen hielt, dann, weil ich für mich eine Art Entschädigung gefunden hatte, die meinen Kummer linderte:
Sollte der kleine Junge ihn meinetwegen haben, solange ich Mina hatte …
Jeden Abend eine halbe Stunde vor dem Zubettgehen kam Mina zu mir. Sie führte mich in ihr Zimmer, setzte sich aufs Bett, stellte für jeden von uns ein Kopfkissen hochkant – manchmal auch ein drittes, wenn Imran noch wach war –, und wir machten es uns bequem. Sie hatte
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