Himmelssucher - Roman
Mohammed wurde zu seinen Spielgefährten zurückgebracht, von denen keiner bemerkt hatte, dass er überhaupt verschwunden gewesen war. Das ganze Wunder hatte nur so lange wie ein Lidschlag gedauert.
Zwei Jahre später, als Mohammed acht war, starb auch der Mann, den er Vater genannt hatte, nämlich sein Großvater. Mina sagte immer, Gott liebte Mohammed mehr als jeden anderen Menschen, aber das wollte mir nicht recht einleuchten. Warum raubte ihm Allah dann jeden Menschen, den er liebte?
»Um ihn zu lehren, sich nur auf Allah zu verlassen«, erklärte Mina.
»Aber warum?«, fragte ich.
»Weil es die Wahrheit ist, Behta . Eine Wahrheit, die die meisten nicht ertragen können, aber trotzdem eine Wahrheit: Gott ist der Einzige, auf den wir uns wirklich verlassen können.«
Ich zweifelte damals nicht an ihren Worten, aber, erinnere ich mich, ich wollte auch nicht meine Eltern – oder Mina – verlieren, nur damit ich etwas Wahres erfahre. Egal, wie wahr es sein mochte.
Meine Lieblingsgeschichte aus Mohammeds Leben spielte in einer Höhle. Es war die Geschichte, die davon berichtete, wie er zum Propheten des Islam wurde. Er war bereits vierzig Jahre alt, verheiratet, Händler von Beruf, von seinem Wesen her aber ein »Wahrheitssucher«, wie Mina ihn nannte. Und während seiner Reisen auf den Handelsrouten nach Syrien traf Mohammed heilige Männer des Christen- und des Judentums, von denen er von Abraham und dessen Lehren vom einen und einzig wahren Gott erfuhr. Diese Christen und Juden, behauptete Mina, hatten Mohammed zu beten gelehrt. Und während eines dieser stillen Gebete, nachts in einer dunklen Höhle im Berg Hira, nicht weit von seinem Haus, hörte Mohammed eine Stimme.
»Trage vor!«, sagte diese Stimme.
Mohammed schlug die Augen auf. Vor ihm schwebte im blendenden Licht eine männliche Gestalt. Es war der Erzengel Gabriel. Mohammed öffnete den Mund und wollte etwas sagen, aber kein Laut kam über seine Lippen.
»Trage vor!«, wiederholte der Engel. Das Echo hallte drohend durch die Höhle.
Wieder versuchte Mohammed etwas zu sagen, konnte es aber nicht.
Nun kam Gabriel näher, sein Lichthof wurde noch heller, noch unerträglicher. Mohammed meinte, sein Herz müsse jeden Moment zerspringen.
»Trage vor!«, befahl der Erzengel erneut.
»Ich weiß nicht, was ich vortragen soll!«, rief Mohammed schließlich zitternd.
Jetzt nahm Gabriel den Sterblichen in seine Arme aus Licht. Und als Mohammed vor Angst ohnmächtig zu werden drohte, geschah es. Worte erblühten auf seiner Zunge, Worte, von denen er nicht gewusst hatte, dass er sie in sich trug. Und was er an jenem Abend sprach, erzählte Mina mit Stolz, waren die ersten Worte unserer großen Offenbarung.
Der Koran.
Es war Ende August, der Abend meines elften Geburtstags. Mina kam mich früher als sonst aus dem Fernsehzimmer holen. »Ich habe etwas für dich, Betha «, sagte sie. Als wir in ihrem Zimmer waren, schloss sie die Tür, zog sich den Schal über die Schultern und bedeckte den Kopf. Sie trat ans Bücherregal und griff nach dem grünen Buch, das ganz allein auf dem obersten Brett lag. Sie legte es an die Lippen, küsste den Einband, dann reichte sie es mir. »Es ist an der Zeit, dass du einen eigenen Koran besitzt. Aber bevor ich ihn dir gebe, möchte ich, dass du dir die Hände wäschst. Respekt vor unserem heiligen Buch beginnt mit Reinlichkeit.«
Ich ging ins Bad und schrubbte mir die Hände mit Seife und brühheißem Wasser. Als ich ins Zimmer zurückkehrte, stand Mina hinter einem Stuhl mit Blick zum Fenster, die Richtung, in die sie fünfmal am Tag betete, in den Händen hielt sie einen langen, weißen Musselin.
»Setz dich, Betha «, sagte sie.
Ich tat es, und Mina wickelte mir das Tuch um den Kopf. Ihre Berührung war warm; ein Schauer durchlief mich. »Wir bedecken unseren Kopf aus Respekt vor dem Wort Gottes.« Nachdem sie damit fertig war, reichte sie mir den Koran.
»Küss ihn«, flüsterte sie.
Ich hob das Buch an meine Lippen. Der weiche, grüne Ledereinband fühlte sich kalt an.
»Schlag die erste Sure auf«, sagte sie.
»Die erste was?«
»Sure. So nennen wir die Kapitel im Koran. Suren .«
Die noch frische Bindung knisterte, als ich das Buch aufschlug. Jede Seite war ein kleines Kunstwerk. Links fand sich jeweils, golden eingerahmt, der arabische Text, rechts gegenüber die englische Übersetzung. Ich blätterte um, und die Seiten – schwer wie Pergament – verströmten den frischen, angenehmen Geruch neuen
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