Himmelssucher - Roman
Papiers.
Ich fand die erste Sure, eine halbe Seite mit Versen, die mit »Eröffnung« überschrieben waren.
»Genau«, sagte Mina. »Lies sie mir vor.«
Ich räusperte mich und begann zu lesen:
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, Gnädigen.
Lob und Preis sei Gott, dem Herrn aller Weltenbewohner,
Dem Barmherzigen, Gnädigen,
Dem Herrscher am Tag des Gerichts.
Dir allein wollen wir dienen, zu dir allein flehen wir
um Beistand.
Führe uns den rechten Weg,
Den Weg derer, die sich deiner Gnade freuen,
Und nicht den Pfad jener, über die du zürnst
Oder die in die Irre gehen.
Ich haspelte durch den Text, blieb am Wort »Barmherzigen« hängen, und als ich mich schließlich bis zum Ende durchgekämpft hatte, stellte ich überrascht fest, dass Mina mich anlächelte. »Weißt du noch, als der Erzengel Gabriel in die Höhle gekommen ist und dem Propheten befohlen hat, vorzutragen?«
Ich wusste es noch.
»Nun, Behta «, erklärte sie und deutete auf die Seite, »das sind die Worte, die an jenem Abend aus dem Mund des Propheten kamen … Friede sei mit ihm .«
Da fiel mir wieder eine Frage ein, die ich ihr schon seit geraumer Zeit hatte stellen wollen. »Tante, warum sagst du immer Friede sei mit ihm ?«
»Aus Respekt, Hayat. Der Prophet hat uns allen so viel gegeben, also sollten wir ihm etwas zurückgeben, indem wir um den Frieden seiner Seele beten.«
»Muss man das immer sagen?«
Mina lachte. »Nein, Behta . Wie bei allem im Leben, Hayat, kommt es auf die innere Einstellung an. Wichtig ist nur, dass du das Andenken des Propheten achtest.« Sie beugte sich zu mir und blätterte die Seite um. Ihr Arm strich über meinen und hinterließ ein prickelndes Gefühl, das sich über den Arm bis hinauf zum Nacken zog.
Mina blätterte um, erklärte, dass es 114 Suren gab, von denen jede das Ergebnis eines Treffens zwischen Gabriel und Mohammed war. Manchmal fanden diese in der Höhle im Berg Hira statt, manchmal zu Hause im Beisein seiner Frauen, manchmal, wenn er träumend auf dem steinharten Bett lag, auf dem er sein Leben lang und auch dann noch geschlafen hatte, als er zu so etwas wie einem König geworden war und sich vieles hätte leisten können.
Mina erklärte, dass daneben der Koran in dreißig Abschnitte von gleicher Länge gegliedert wurde, die man Dschuz nennt. So unterteilten ihn die Hafiz, die das heilige Buch auswendig konnten. Mina sagte, ein Hafiz zu werden sei das Größte, was man in seinem Leben erreichen könne. Damit sichere man nicht nur für sich selbst einen Platz in der Dschanna, sondern auch für seine Eltern. Dschanna, unser Wort für »Paradies«: der himmlische Garten und höchstes Ziel all unserer Mühen. Ich wusste zwar wenig über unseren Glauben, aber ich wusste, wie wichtig das Paradies war. Für uns Muslime hat das Leben auf der Erde keinen Wert, wenn es nicht zu dieser Heimstatt endlosen Friedens und endloser Freuden führt, wo Flüsse aus Milch und Honig fließen und die berühmten Jungfrauenscharen auf unsere Ankunft warten.
Mir war zwar nicht ganz klar, was »Jungfrau« eigentlich bedeutete, ich wusste aber, dass es mit der kribbeligen Faszination und dem Schamgefühl zu tun hatte, das sich bei mir einstellte, wenn zum Beispiel Bo Derek in den Trailern für 10 – Die Traumfrau über unseren Fernsehbildschirm schwebte oder ich die endlose Parade bikinitragender Frauen in Highheels zu sehen bekam, die bei Schönheitswettbewerben für die Kameras posierten – und die Mutter trotz ihrer scheinbar grenzenlosen Verachtung weißer Frauen unerklärlicherweise mit religiöser Inbrunst schaute. Ich wusste, das Wort »Jungfrau« hatte etwas mit den Reizen eines unbekleideten Frauenkörpers zu tun, was für mich alles noch sehr mysteriös war, da ich über die Facts of Life nicht mehr wusste, außer dass so eine Fernsehserie über vier Mädchen in einem Pensionat hieß. Meine Verwirrung wurde durch einen scheinbar paradoxen Umstand noch gesteigert: Warum waren uns diese Körper jetzt verboten, wenn sie uns doch später in der Dschanna ausdrücklich versprochen wurden?
»Bist du ein Hafiz, Tante?«, fragte ich.
Sie lachte. »Dafür bin ich zu faul, Behta . Den Koran auswendig zu lernen ist harte Arbeit. Man braucht dazu viele Jahre, und man muss dafür ein ganz besonderer Mensch sein. Ein Hafiz gibt nie auf.«
Nichts erschien mir damals so faszinierend wie diese rätselhaften Hafiz, wer immer sie sein mochten.
Mina schlug erneut die Seite mit der Eröffnung auf. »Lesen wir sie noch mal«,
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