Himmelssucher - Roman
sagte sie.
»Zusammen?«
»Nein, Betha . Du liest sie mir vor.«
Ich begann zu lesen. Geschmeidig ratterte ich den Text herunter. Erst als Mina mich unterbrach und fragte, ob ich auch verstanden hätte, was ich vorlas, wurde mir bewusst, dass ich dem Inhalt keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte – nur dem Vergnügen, meine eigene Stimme zu hören.
Also las ich die Verse noch einmal.
»Ich verstehe die Wörter, Hayat«, unterbrach sie mich. »Ich will wissen, was sie bedeuten. «
Mein Blick war auf ihren Mund gerichtet, auf ihre rosafarbenen, vollen Lippen. Eine ihrer Gesichtshälften wurde von der Nachttischlampe erhellt, die andere war halb in den Schatten getaucht. Sie war wunderschön.
»Hayat? Hayat?«
»Ja, Tante?«
»Ich will, dass du dich konzentrierst, okay?«
»Tut mir leid.«
»Schauen wir uns noch einmal diese Zeilen an. Drei Wörter werden wiederholt … Welche sind es?«
Ich betrachtete die Seite. Im Lampenlicht pulsierten die schwarzen Buchstaben vor dem gelb-weißen Papier. Minas Finger mit ihren roten Nägeln wanderten die Zeilen entlang. Ich versuchte mich zu konzentrieren und suchte die wiederholten Wörter.
Im Namen Gottes, des Barmherzigen, Gnädigen.
Lob und Preis sei Gott, dem Herrn aller Weltenbewohner,
Dem Barmherzigen, Gnädigen.
»›Gott‹, ›Barmherzigen‹, ›Gnädigen‹«, sagte ich.
»Gut. Also, was ›Gott‹ bedeutet, weißt du. Aber wie steht es mit den anderen beiden Wörtern? Fangen wir mit ›gnädig‹ an. Was bedeutet ›gnädig‹?«
»Wenn jemand nett ist?«
»Nicht nur. Man kann es genauer sagen.«
Das Wort weckte bei mir ein warmes Gefühl, Freundlichkeit, etwas Befreites, Befreiendes. Aber ich wusste nicht, wie ich es erklären sollte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich genervt.
»Ich will dir helfen, Hayat … Wenn dich jemand schlägt, was tust du dann?«
»Zurückschlagen?«
»Oder?«
Ich dachte darüber nach. »Es jemandem sagen?«
Sie lächelte. »Oder?«
Ich hatte keine Ahnung.
»Du kannst ihm verzeihen«, sagte sie. »Wenn du ihm verzeihst, erweist du dich als gnädig.« Ihre Definition war für mich von bestechender Klarheit. »Und ›barmherzig‹?«, fuhr sie fort. »Weißt du, was das bedeutet?«
Ich zuckte mit den Schultern. Ich wusste es nicht.
»Es bedeutet, Gutes zu tun«, sagte sie. »Wenn du Gutes tust, bist du barmherzig.« Sie berührte meine Wange. »Was also sagt uns der Koran bereits ganz am Anfang?«
»Dass Gott vergibt? Und Gutes tut?«
Sie lächelte mich an. »Ganz genau, Hayat. Und ich möchte dir noch etwas sagen, etwas ganz Besonderes …« Sie beugte sich zu mir vor, senkte die Stimme, und ihr leichter britischer Akzent schien ausgeprägter als sonst: »Etwas, was mir niemand erzählt hat und ich erst erfahren habe, als ich schon älter war als du jetzt … und ich will, dass du es niemals vergisst. Einverstanden?«
Ich nickte.
»Allah wird dir immer vergeben, egal, was du tust. Egal, was du tust . Du musst ihn nur bitten , dass er dir vergibt. Das bedeutet, dass er gnädig ist. Und Allah ist auch barmherzig . Und das bedeutet, er wird immer dafür sorgen, dass es zum Guten geschieht, egal, was dir zustößt.«
»Du meinst, auch die schlechten Dinge, die manchmal passieren? Auch die geschehen zum Guten?«
»Genau, mein Lieber.« Ihre Augen funkelten jetzt. »Diese Sure erzählt uns vom Wesen Allahs, Behta . Es liegt in seinem Wesen, uns zu verzeihen. Und es liegt in seinem Wesen, das zu tun, was zum Guten ist. Was das bedeutet, ist nicht schwer zu verstehen: Du musst dir niemals Sorgen machen. Niemals. Du bist immer in Sicherheit. So sicher, als würde Allah selbst dich in seiner Hand tragen.« Sie streckte ihre Handfläche aus, ihre schmale Hand mit den dunklen, sich kreuzenden Linien. Wie die Seite in dem Buch – und ihre Finger, die darauf ruhten – kam mir jetzt auch ihre Hand als etwas ganz und gar Besonderes vor. Erneut küsste sie mich auf die Stirn. »Allah wird mit dir sein, Behta .«
In jener Nacht kribbelte und prickelte mein ganzer Körper. Ich erinnere mich noch gut an meinen Baumwollpyjama und wie er sich angefühlt hatte, den Stoff, der sich hier und dort gegen die Haut gedrückt, mich berührt hatte, als wäre er lebendig. Aber das war nur die Oberfläche. Auch tief in mir war alles in Aufruhr. Selbst meine Knochen schienen zu atmen. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er zu sich selbst gekommen, als wäre er mit Luft gefüllt und als dehnte er sich mit dem Licht aus.
Ich
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