Himmelssucher - Roman
Hand.
Edelstein sah auf. »Ja, Ahmad?«
»Warum hat Ihr Kollege seine Erkenntnisse noch nicht veröffentlicht?«, blaffte Ahmad.
Edelstein sah ihm einen Moment in die Augen, bevor er in versöhnlichem Tonfall antwortete. »Mein Kollege fürchtet um den weiteren Zugang zu den Texten, wenn diese Erkenntnisse den jemenitischen Behörden vorgelegt werden. Er und seine Mitarbeiter bereiten eine Artikelreihe vor, wollen aber sicherstellen, dass noch genügend Zeit bleibt, um alle vierzehntausend Seiten sorgfältig durchzugehen, falls sie die Dokumente später nicht mehr zu Gesicht bekommen sollten.«
Zornig erwiderte Ahmad: »Und warum, bitte schön, sollte ihnen der Zugang verwehrt werden?«
Stille. Die Spannung war mit Händen zu greifen.
»Es gibt keinen Grund, sich so aufzuregen, Ahmad. Wir können wie Akademiker darüber reden …«
»Akademiker! Was ist das für ein Akademiker, der solche Behauptungen aufstellt, ohne sie ausreichend zu belegen? Hä?«
»Mir ist bewusst, dass es sich um kontroverse Dinge handelt … aber es gibt keinen Grund …«
Ahmad fiel ihm ins Wort. »Das alles ist nicht kontrovers, Professor «, sagte er voller Verachtung. »Sondern ketzerisch .« Ahmad sprang auf, die Bücher in der Hand. »Ketzerisch und beleidigend!«, schrie er. Nach einem Blick zu Sahar, der stillen malaiischen Studentin, die links von ihm saß und mit gesenktem Kopf nervös in ihren Notizblock kritzelte, und einem weiteren Blick zu mir stürmte Ahmad aus dem Raum.
»Will noch jemand gehen?«, fragte Edelstein, sichtlich betroffen. Nach einer kurzen Pause packte Sahar schweigend ihre Sachen, stand auf und ging hinaus.
»Bleiben noch Sie, Hayat.«
»Keine Sorge, Professor. Ich bin durch und durch ein Mutazilit.«
Edelsteins Miene hellte sich auf. »Gesegnet seien Sie.«
Nach dem Seminar stand ich auf, streckte mich und war erneut verblüfft, wie hellwach ich mich fühlte.
»Wohin gehst du?«, fragte Rachel.
»Zur Student Union.«
»Willst du mich begleiten? Ich muss in die Bibliothek.«
»Klar«, sagte ich.
Unter den schattenspendenden Eschen schlenderten wir zur Bibliothek, und Rachel erzählte, wie sehr es sie überrascht habe, dass Ahmad und Sahar den Raum verlassen hatten.
»Das muss dich nicht überraschen«, sagte ich. »In manchen Kreisen wird man schon wegen Geringerem umgebracht.« Sie stutzte. »Denk nur an Rushdie.« Die Fatwa gegen ihn lag damals nur ein Jahr zurück und war jedem noch frisch im Gedächtnis.
Rachel schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das alles nicht. Was du zu Edelstein gesagt hast … Was hast du damit gemeint?«
»Dass ich ein Mutazilit bin?«
»Ja.«
»So nennt sich eine Schule im Islam, die im Koran nicht das ewige Wort Gottes sieht. Aber das war nicht ernst gemeint. Ich bin kein Mutazilit. Die sind schon vor tausend Jahren ausgestorben.«
Sie nickte. Dann, nach einigen weiteren Schritten, fragte sie: »Wie ging’s dir damit?«
»Wie soll’s mir damit schon gehen? Die Wahrheit ist die Wahrheit. Es ist besser, wenn man sie kennt.«
»Genau«, sagte sie und musterte mich. »Aber das heißt nicht, dass man dabei nicht auch etwas empfinden kann, oder?« Sie fragte ganz vorsichtig. Etwas Zärtliches schwang darin mit.
»Willst du es wirklich wissen? Ich fühle mich frei.«
Sie nickte. Schweigend gingen wir weiter.
»Was dagegen, wenn ich dir eine persönliche Frage stelle?«, sagte ich schließlich.
»Kommt drauf an.«
»Worauf?«
»Was du wissen willst.«
»Hast du letzten Abend wirklich lernen müssen, oder hast du das nur so gesagt?«
Rachel lachte, ihre Lippen teilten sich und ließen ihre kleinen Zähne aufblitzen. Sie war wirklich wunderschön. »Ich habe morgen eine Prüfung in organischer Chemie, das habe ich dir doch gesagt. Deswegen gehe ich jetzt auch in die Bibliothek.« Sie blieb stehen und legte mir die Hand auf den Arm. »Aber zum nächsten Spiel komme ich mit … Versprochen!«
Mein Herz hopste vor Freude. »Okay«, sagte ich und verschluckte mich fast dabei.
Als wir die Stufen zur Bibliothek erreichten, war mir plötzlich danach, ihr zu erzählen, was mir am Abend zuvor passiert war. »Kann ich dir noch eine persönliche Frage stellen?«
»Schieß los.«
»Glaubst du an Gott?«
Rachel stutzte, dann zuckte sie mit den Schultern. »Nein. Jedenfalls nicht daran, dass da so ein Typ im Himmel sitzt.«
»Wie lange ist das schon so?«
»Vermutlich schon immer. Meine Mom ist Atheistin, daher habe ich das wohl nie so recht ernst genommen. Also,
Weitere Kostenlose Bücher