Himmelssucher - Roman
mein Dad hat uns manchmal gezwungen, in die Synagoge zu gehen – zu Rosch ha-Schana und so –, aber selbst da hat sie den ganzen Weg, hin und zurück, immer nur gemeckert.«
»Dann weißt du also nicht, wie es ist, wenn man seinen Glauben verliert.«
»Eigentlich nicht.«
Ich nickte. »Es ist befreiend. Unglaublichbefreiend. Das Befreiendste, was mir jemals zugestoßen ist … Du hast mich gefragt, wie es mir mit dem Seminar gegangen ist. Wenn ich Edelstein vom Koran reden höre, als wäre er nur ein Buch, ein Buch wie jedes andere auch, dann ist mir nach feiern zumute.«
»Klingt gut«, sagte sie lächelnd. »Wenn du bis morgen warten kannst, könnten wir zusammen feiern …«
»Klingt noch besser.«
Rachel verharrte auf der Stufe über mir gerade so lange, um bei mir einen Gedanken heraufzubeschwören – einen Gedanken, den ich nicht hinterfragte. Kurzentschlossen beugte mich vor und drückte ihr meine Lippen auf den Mund.
Sie presste sich gegen mich. Ich spürte ihre Hand am Hinterkopf, und ihre Zungenspitze streifte sanft meine Zungenspitze.
Plötzlich löste sie sich, drehte sich um und sprang die Stufen hinauf, blieb an der Tür stehen und warf mir einen schnellen Blick zu. »Wünsch mir alles Gute bei der Prüfung«, sagte sie.
»Alles Gute«, sagte ich.
In meinem Kopf drehte sich alles, nachdem sie fort war. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
An diesem Abend, nach dem Unterricht und den Tischtennispartien in der Student Union, saß ich auf dem Bett, versuchte zu lernen und konnte nur an Rachel denken … bis das Telefon klingelte. Es war meine Mutter.
»Sie ist gestorben, Behta .«
Ich schwieg. Natürlich wusste ich, von wem sie sprach. Einen Monat zuvor hatten wir Mina – nicht nur die beste Freundin meiner Mutter, sondern auch der Mensch in meinem Leben, der mich wahrscheinlich am meisten beeinflusst hatte – in Kansas City besucht, wo sie, schon völlig vom Krebs zerfressen, im Krankenhaus gelegen hatte.
»Hast du mich gehört, Hayat?«, fragte Mutter.
»Ist wahrscheinlich besser so, oder, Mom? Ich meine, jetzt hat sie keine Schmerzen mehr.«
»Aber sie ist tot, Hayat«, stöhnte Mutter. »Sie ist tot …«
Ich lauschte ihrem Weinen. Dann tröstete ich sie.
Mutter fragte mich an jenem Abend nicht nach meinen Gefühlen. Wahrscheinlich hätte ich ihr sowieso nicht gesagt, was in mir vorging. Selbst mein Geständnis an Minas Totenbett hatte nicht gereicht, die Schuld zu lindern, die ich seit dem zwölften Lebensjahr mit mir herumtrug. Wenn ich meiner Mutter nicht mitteilen wollte, wie sehr es mich bedrückte, dann deshalb, weil mein Schmerz nicht nur Mina galt, sondern auch mir.
Wie konnte ich jetzt, nachdem sie tot war, den Schaden jemals wiedergutmachen, den ich angerichtet hatte?
Am darauffolgenden Abend saß ich mit Rachel an einer Pizzeria-Theke, wo wir vor dem Kino noch etwas aßen. Ich erzählte ihr nicht von Mina, aber irgendwie spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Sie fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ja, sagte ich. Sie hakte nach. »Wirklich, Hayat?« Dabei sah sie mich mit einer Zärtlichkeit an, die ich nicht ergründen konnte. »Ich dachte, es gäbe was zu feiern«, sagte sie lächelnd.
»Na ja … es gab schlechte Neuigkeiten … nachdem wir uns gestern verabschiedet haben.«
»Welche?«
»Meine Tante ist gestorben. Sie war für mich … wie eine zweite Mutter.«
»O Gott. Das tut mir leid.«
Mit einem Mal schnürte es mir die Kehle zu. Ich war den Tränen nahe.
»Tut mir leid«, sagte ich und sah weg.
Ich spürte ihre Hand auf meinem Arm und hörte ihre Stimme. »Du musst darüber nicht reden …«
Ich sah sie an und nickte.
Der Film, eine Komödie, lenkte mich ein bisschen ab. Zum Ende hin drückte sich Rachel an mich, und wir hielten eine Weile lang Händchen. Danach lud sie mich zu sich auf ihr Zimmer ein, wo sie Kerzen anzündete und mir ein selbst komponiertes Lied auf der Gitarre vorspielte. Ein sehnsuchtsvolles, trauriges Lied über eine verlorene Liebe. Nur drei Tage vorher hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass ich so viel Glück haben sollte. Trotzdem ging mir Mina nicht aus dem Sinn.
Ich sagte Rachel, dass ihr Song wunderbar sei.
Sie sah mir an, dass ich in Gedanken ganz woanders war. »Du denkst immer noch an deine Tante, oder?«
»Ist es so offensichtlich?«
Sie zuckte mit den Schultern und lächelte. »Schon gut«, sagte sie und stellte ihre Gitarre zur Seite. »Meine Großmutter ist mir wahrscheinlich genauso wichtig gewesen.
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