Himmelssucher - Roman
ins Haus ihrer Eltern im Punjab, zurück. Dort, drei Wochen zu früh und ohne ihren Mann – der sie aus Angst vor dem Zorn seiner Mutter nicht begleitete –, brachte Mina einen Jungen zur Welt. Und während sie erschöpft von den einen ganzen Tag dauernden Wehen im Krankenhausbett lag, erschien in der Tür ein Mann in einem langen dunklen Gewand. Er trat ein und fragte, ob sie Amina Suhail, geborene Ali, sei.
»Das bin ich«, erwiderte Mina.
Der Mann näherte sich ihrem Bett, in der Hand hielt er einen Umschlag. »Ihr Ehemann hat Sie verstoßen. Hier ist das für die Scheidung notwendige Schriftstück. Er hat es eigenhändig verfasst – Sie werden seine Handschrift erkennen – und schriftlich kundgetan, dass er Sie verstößt, dass er Sie verstößt, dass er Sie verstößt. So sieht es das Gesetz vor, wie Sie sehr wohl wissen, Mrs. Suhail … ich meine, Miss Ali.« Er legte ihr den Umschlag sacht auf den Bauch. »Sie haben gerade Hamed Suhails Sohn geboren. Er hat für den Jungen den Namen Imran bestimmt. Imran wird bis zum Alter von sieben Jahren bei Ihnen bleiben, von da an fällt das alleinige Sorgerecht an Mr. Hamed Suhail.« Der Anwalt trat einen Schritt zurück, war aber noch nicht fertig. Mina blinzelte ihn ungläubig an. »All dies erfolgt in Übereinstimmung mit den Gesetzen des Landes Pakistan, datiert auf den 15. Juni 1976. Das Gesetz stellt Ihnen frei, einen Sorgerechtsprozess anzustrengen, ich rate Ihnen aber, Mrs. Suhail … ich meine, Miss Ali, einzusehen, dass jede gerichtliche Auseinandersetzung für Sie nutzlos ist und nur Mittel verschlingen wird, über die Ihre Familie nicht verfügt.«
Daraufhin machte der Anwalt kehrt und ging hinaus.
Mina weinte an den Tagen und Nächten und in den Wochen, die folgten. So sehr Hameds grausames Vorgehen ihr auch zusetzte – und so sehr sie sein drohendes Versprechen fürchtete, ihr eines Tages das Kind wegzunehmen –, als sie ihrem Sohn in die Augen sah, sprach sie ihn mit dem Namen an, den ihr nunmehriger Exmann ohne Absprache mit ihr bestimmt hatte.
Sie nannte den Jungen Imran.
Im Winter 1981 hörte ich zum ersten Mal, dass meine Mutter Mina nach Amerika holen wollte. Ich war zehn. Die Geiseln aus dem Iran waren vor Kurzem nach Hause gekommen, und in den Abendnachrichten sah man brennende amerikanische Flaggen. Es war an einem Samstagnachmittag, zur Teezeit, meine Eltern saßen sich am Küchentisch gegenüber und nippten schweigend an ihren Tassen. Ich saß am anderen Ende, mit dem Rücken zum Glas Milch, das meine Mutter mir hingestellt hatte, und beobachtete ein halbes Dutzend Fliegen, die gegen die Fensterscheibe stießen, durch die der Garten hinter dem Haus zu sehen war.
»Weißt du, Kurban , deine Tante Mina kommt vielleicht zu uns und wird bei uns wohnen«, sagte Mutter schließlich. » Kurban ?«
Ich drehte mich um. »Wann?«, fragte ich.
»Je früher, umso besser. Ihre Familie treibt sie noch in den Wahnsinn. Und der Junge muss außer Landes … oder sein Vater holt ihn. Nein, beide müssen raus.«
Mutter sah zu meinem Vater. Er blätterte eine Anglerzeitschrift durch, ohne auf ihre Kommentare einzugehen.
Ich sah wieder zu den Fliegen, die gegen die Glasscheibe schwirrten.
»Diese Fliegen! Wo kommen die bloß alle her?«, rief Mutter plötzlich. »Und auf dem Dachboden sind auch so viele! Weiß Gott, wie sie da hinaufgekommen sind!«
Missmutig blickte Vater von seiner Zeitschrift auf. »Du sagst das, als ob wir es noch nie gehört hätten, als ob du es uns zum ersten Mal erzählst. Aber du sagst es nicht zum ersten Mal. Ich kümmere mich darum.«
»Ich habe nicht mit dir geredet, Naveed.«
»Mit wem dann?«, fragte Vater in scharfem Ton. »Sonst ist nur noch der Junge hier, und ich weiß nicht, was er damit zu schaffen hat.«
Mutter starrte ihn ausdruckslos an. Vater starrte mit seinen haselgrünen Augen kalt zurück. Dann verschanzte er sich wieder hinter seiner Zeitschrift.
Mutter stand vom Tisch auf und ging zum Kühlschrank. »Es wird nicht einfach werden, Kurban . Selbst wenn wir es arrangieren können, wer weiß, ob ihre Eltern sie kommen lassen. Manchmal denke ich mir, sie wollen sie nur bei sich behalten, damit sie jemanden haben, den sie quälen können. Weißt du, was ihr Vater getan hat? Er hat ihre Bücher verkauft! Kannst du dir das vorstellen? Mina ohne ihre Bücher!«
Mutter sah zu Vater, dann erwartungsvoll zu mir. Ich sollte etwas sagen, aber ich wusste nicht, was.
»Warum hat er ihre Bücher verkauft?«,
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