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Himmelssucher - Roman

Himmelssucher - Roman

Titel: Himmelssucher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carl's books Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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nicht nur die Heiligkeit (oder Qualität) des Fleisches, die die damit verbundenen Unannehmlichkeiten ausglich. Bei Yakov’s gefiel es Mutter, wie es wohl selten einem Kunden in einer Metzgerei gefallen haben dürfte. Sie verweilte oft im Laden und unterhielt sich mit Yakov Brustein und seinen beiden Söhnen über alles Mögliche, vom Wetter bis zur Bedeutung des Jom-Kippur-Festes.
    An die letztere Unterhaltung erinnere ich mich noch lebhaft, denn sie dauerte über eine halbe Stunde, und als Folge davon kam Mutter zu dem Schluss, dass der jüdische Versöhnungstag ein so herrlicher Feiertag sei, dass ihn jeder begehen sollte, ob er nun Jude war oder nicht. Was natürlich hieß, dass wir ihn begehen sollten. In jenem Herbst behielt Mutter mich am entsprechenden Tag zu Hause. Ich musste nicht in die Schule, allerdings taten wir kaum Buße für unsere Sünden, es sei denn, man wollte es als Buße bezeichnen, dass wir in die Mall gingen und dort unbelegte Pizzastreifen aßen. Nach der Pizzeria suchten wir einen Laden auf, um mir eine neue Cordhose zu kaufen, die Cordhose, die ich auch am nächsten Tag trug und in deren Gesäßtasche ein gefalteter Zettel steckte, auf dem Mutter erklärte, ich wäre am Vortag wegen eines religiösen Festes zu Hause geblieben. Mrs. Ike, meine Lehrerin in der dritten Klasse – eine Frau, deren nordische Physiognomie so abschreckend und herb war wie ihre Seele sanft und frohgemut –, fragte mich mit unschuldiger Neugier, welchen Feiertag wir denn begangen hätten.
    »Jom Kippur«, erwiderte ich mit seltsamem Behagen.
    Mrs. Ike war verwirrt. »Aber ihr seid doch Moslems, oder?«
    Ich zögerte. Irgendwie hatte es mir wohl noch nicht richtig gedämmert – was sich in den folgenden Monaten drastisch ändern sollte –, dass man nicht Jude und Muslim zugleich sein konnte.
    »Ja, wir sind Muslime«, sagte ich.
    »Dachte ich’s mir doch, dass deine Mutter mir so was erzählt hat«, sagte Mrs. Ike, immer noch verwirrt. Und dann fuhr sie fort, heiter und mit einem plötzlichen Lächeln, mit dem sie wohl klarstellen wollte, dass sie in keiner Weise jemanden oder etwas aburteilen wollte, sondern lediglich interessiert war: »Mir war gar nicht bewusst, dass Juden und Moslems die gleichen Feiertage haben. Wie hübsch. Man lernt doch nie aus, was?«
    Mutters eher drollige Vorliebe für alles Jüdische war nur die eine Seite unserer Beziehung zu den Juden. Während meine Familie ihnen positiver begegnete als viele mir bekannte Muslime, so bekam ich trotzdem auch die dunklere Seite des muslimischen Antisemitismus zu spüren, und das mit denkwürdiger – und folgenschwerer – Eindringlichkeit an einem Dezemberabend, als ich neun Jahre alt war.
    Meine Eltern waren zum Abendessen bei den Chathas eingeladen (Ghaleb Chatha, der wohlhabende Apothekenbesitzer, mit dem sich Vater auf Mutters Wunsch immer anfreunden sollte). Es hatte an jenem Abend heftig geschneit, und ich erinnere mich, im Erkerfenster des palastgroßen Wohnzimmers der Chathas gesessen und in das Gestöber hinausgestarrt zu haben.
    »Schneit es noch, Behta ?«, fragte mich Chatha, als er aus dem Flur zurückkam. Er war ein großer, hagerer, blassbrauner Mann, dessen mit Aknenarben übersätes Gesicht von einem weißen Bartvorhang gerahmt wurde, einem dichten, säuberlich gestutzten Vollbart. Er hatte lange Arme und ebensolche dünnen Runzelfinger. Ich nickte, während er mir den Kopf tätschelte, und war etwas verdutzt wegen seiner Frage, deren Antwort doch direkt vor seinen Augen lag – er hätte nur aus dem Fenster sehen müssen. Lächelnd kehrte er zu seinem Armsessel in der Mitte des Zimmers zurück, wo die Männer versammelt waren. Neben Chatha war noch Vater anwesend; Sonny Buledi, der Psychiater mit der österreichischen Frau (das war noch, bevor Sonny sich als Atheist bezeichnet und sich damit in der örtlichen pakistanischen Gemeinde zur Persona non grata gemacht hatte); dazu zwei weitere, die ich nicht kannte: ein wohlgenährter Ingenieur namens Majid und ein glatzköpfiger, dürrer, nervöser Mann namens Dawood. Die Männer saßen getrennt von den Frauen, die sich in der Küche aufhielten. Ich war der einzige Junge an diesem Abend. Satya und Otto Buledi waren bei ihrer Mutter, die nicht mitgekommen war.
    »Wo ist denn die Familie?«, fragte Dawood Sonny. »Warum haben Sie sie nicht mitgebracht?«
    »Sie sind in Österreich«, antwortete Sonny. »Bei der Familie meiner Frau.«
    »Und warum sind Sie nicht bei ihnen?«, fragte

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