Himmelssucher - Roman
grenzenlose Liebe. »Deshalb erziehe ich dich auch anders, damit du lernst, einer Frau gegenüber respektvoll zu sein. Es stimmt schon, Kurban : Ich erziehe dich wie einen kleinen Juden.«
Was Mutter in dieser Nacht über die Juden sagte, war für mich nichts Neues. Sie redete oft genug über die da – so bezeichnete sie häufig jene jüdischen Glaubens: wie klug sie waren, wie gut sie das Wesen des Geldes verstanden, dass sie sich gegenseitig niemals im Stich ließen, das Haus der Mutter ehrten, wie sehr sie Bücher liebten, wie sensibel ihre Männer, welch starke Seelen, überhaupt, welch besonderes Volk sie waren, weshalb sie von anderen immer beneidet wurden etc. etc. Ohne Ausnahme wiederholte sie die Litanei der gängigen Klischees, die sie aber nicht als solche kennengelernt hatte, sondern als Lob aus dem Mund ihres Vaters. Er hatte seinen Kindern die Überzeugung eingebläut, Juden seien das besondere Volk, das vor allen anderen von Gott gesegnet und zuweilen – wie ein verzogenes Kind – nur schwer zu ertragen war, von dem man aber vieles lernen könne.
Da er kurz vor meiner Geburt gestorben war, hatte ich meinen Großvater nie kennengelernt, aber ich hörte viel über seinen Respekt vor den Juden, Respekt, der von seiner Zeit in England stammte, wo er nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Juden studiert hatte. Laut Mutters Erzählungen beeindruckte ihn besonders die jüdische Hochachtung vor wahrer Gelehrsamkeit, die so rein gar nichts mit dem mechanischen Auswendiglernen und gedankenlosen Herunterleiern tradierter Inhalte zu tun hatte, wie er es bei Muslimen so oft erlebte. Unter den vor Hitlers Endlösung geflohenen jüdischen Familien in London lernte mein Großvater Menschen kennen, die im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt diskutierten – und das, obwohl sie um des Überlebens willen jeden Grund gehabt hätten, sich selbst keinesfalls zu hinterfragen und sich sämtlichen Selbstzweifeln zu verschließen. Besonders mit einer Familie verbrachte er viel Zeit, den Goldenbergs. Sie wohnten nebenan und hatten sich mit dem jungen Jurastudenten aus Pakistan angefreundet. Jahre später würde er seine Kinder mit Geschichten von den Goldenbergs unterhalten, die und deren Gäste Bücher küssten, sogar solche, die nicht heilig waren, die vor und nach dem Essen ihre rituellen Gesänge anstimmten und ohne Tabu alles erörterten, von der Bedeutung ihrer Gebräuche bis hin zu den neuesten Entwicklungen in den Wissenschaften und deren Auswirkungen auf die Lehren der Tora. Ihre intellektuelle Neugier wurde von vielen Juden geteilt, die mein Großvater in den Londoner Elendsvierteln kennenlernte, ein Wissensdurst, der weder die Goldenbergs noch ihre Freunde davon abhielt, zu ihrem Gott zu beten oder ihn bei ihren Mahlzeiten anzurufen. Durch sie lernte mein Großvater, dass der Gebrauch der Vernunft die Verbundenheit mit den Traditionen keineswegs schwächen musste, sondern sie sogar stärken konnte. Das widersprach allem, was er in seiner religiösen Erziehung in den Moscheen des Punjab erfahren hatte – dort war ihn wie vielen anderen Sunniten gelehrt worden, dass die Suche nach Erkenntnis um ihrer selbst willen das erste Anzeichen dafür war, dass man vom rechten Weg zu Gott abgekommen war.
Während sich die Hochachtung meines Großvaters gegenüber der jüdischen Kultur auf bestimmte intellektuelle Qualitäten stützte, die er als Bereicherung des Lebens betrachtete, war die Bewunderung, die meine Mutter ihr entgegenbrachte, erheblich schrulliger. Ein Beispiel: Irgendwann entdeckte meine Mutter den einzigen koscheren Metzger der Stadt. Er befand sich auf der North Side, eine halbstündige Autofahrt entfernt, falls wenig Verkehr herrschte. Eines Tages fuhren wir zufällig daran vorbei. Sie hielt an und spähte durch das Schaufenster, fasziniert – ja, regelrecht verzaubert – vom Anblick der Juden, Jungen wie Alten, sowohl vor als auch hinter der Verkaufstheke.
Am nächsten Tag kehrte sie zurück und erwarb Lammkoteletts, die sie am Abend zubereitete. Vater und mir verkündete sie, das Fleisch wäre »nicht nur heiliger, sondern auch besser «. (Heiliger, konnte sie behaupten, weil Juden wie wir Muslime die Tiere schlachteten, indem sie sie ausbluten ließen, während ein Imam oder Rabbi über dem Tier den Namen Gottes sprach.) Trotz der beträchtlich längeren Anfahrt zogen wir von da an Yakov’s Kosher Meats dem örtlichen Lebensmittelladen mit seinem abgepackten Fleisch vor, und es war
Weitere Kostenlose Bücher