Himmelssucher - Roman
Stille erschien jedes Ding genau als das, was es war. Als Stuhl. Als Tisch. Als Blume. Als Laken. Und jedes Ding verlangte meine volle Aufmerksamkeit. Ich musste an das denken, was Mina mir einmal erzählt hatte: dass Gottes Licht überall sei; man müsse nur lernen, es zu sehen. Sie hatte mir einen Vers im Koran gezeigt, der erklärte, was sie damit meinte:
Allah ist das Licht der Himmel und der Erde.
Sein Licht gleicht dem Licht einer Lampe in der Nische einer Mauer, deren Glas erstrahlt wie ein leuchtender Stern,
Erhellt vom Öl eines gesegneten Baums, eines Olivenbaums, der weder im Osten noch im Westen wächst,
Und dessen Öl auch ohne Feuer brennt und glüht.
Licht über Licht!
Allah leitet zu seinem Licht, wen er will …
Das , dachte ich und sah mich um, ist Allahs Licht. Und er leitet mich, um es zu sehen.
In dieser Nacht hatte ich einen Traum. Ich floh vor einer Frau in einer zerrissenen Burka, die mir wehklagend und heulend nachjagte. Und dann hörte ich eine tiefe Stimme: »Komm mit mir«, sagte sie. Ich drehte mich um und erkannte den Propheten. Er war genau so, wie Mina ihn beschrieben hatte: freundlich, mit großen Augen und dichten Wimpern, einem Vollbart und einer Lücke zwischen den beiden vorderen Zähnen, die sichtbar wurde, als er mich anlächelte.
»Komm«, sagte er und nahm mich an der Hand.
Mohammed führte mich zu einer weißen Moschee in den Bergen. In der Moschee standen Gestalten. Ich vermochte nicht zu sagen, ob es Statuen waren oder auf wundersame Weise erstarrte Menschen. Der Prophet führte mich ganz nach vorn in den Gebetsraum und sagte mir, ich solle das Gebet anführen. Ich sang den Aufruf zum Gebet, und alle Gestalten erwachten aus ihrer Starre und setzten sich in Bewegung. Verblüfft fragte ich den Propheten: »Wie sind sie zum Leben erwacht?«
»Wer?«, fragte er. Ich deutete auf die Gestalten, die nun, Seite an Seite, ihre Plätze für das Gebet einnahmen. Es waren ausschließlich Männer.
»Das ist deine Umma«, sagte er. Vom Koran wusste ich, dass das Wort die Gemeinschaft der Muslime bezeichnete. Aber das war keine Antwort auf meine Frage. Der Prophet wandte sich von mir ab und schloss zur Vorbereitung auf das Gebet die Augen.
Stille senkte sich über die Moschee, und dann begannen wir zu beten. Ich vollzog die rituellen Bewegungen; der Prophet tat es; die Gestalten taten es mit uns. Das Gebet ging weiter und weiter. Irgendwann erkannte ich, dass es niemals aufhören würde.
Ich ging aus der Moschee und ließ sie beten.
Draußen schien die Sonne, hell und warm. Ich sah an mir hinab und bemerkte, dass mein Arm in einem goldenen Gips steckte. Darauf war ein Name geschrieben: Yitzhak.
Ich wachte auf.
Im Zimmer war es dunkel. Kalte Luft strömte aus der Lüftung an der Decke. Irgendetwas störte mich, etwas in mir kribbelte, juckte – es war nicht mit dem Jucken unter dem Gips vergleichbar –, aber ich bekam es nicht zu fassen. Mina hatte gesagt, es sei ein großer Segen, wenn einem der Prophet im Traum erschien, meinem Traum aber schien alles Segensreiche zu fehlen. Statt zu bleiben und mit ihm zu beten, war ich gegangen.
Auch die Gestalten beunruhigten mich. Ich musste an Nathans Geschichte von Ibrahim und den Götzenbildern denken, die nicht sprechen und sich nicht bewegen konnten. Ich wälzte mich hin und her und versuchte wieder einzuschlafen. Dann fiel mir Dr. Gold ein. Und der goldene Gips in meinem Traum, auf dem »Yitzhak« gekritzelt war. Jason Blums Name.
Warum hasst Allah sie so sehr? , überlegte ich. Es ergab für mich keinen Sinn.
Ruhelos lag ich so, es konnten Minuten, es konnten aber auch Stunden gewesen sein. Irgendwann, halb im Schlaf, hörte ich die Tür knarren. Ich schlug die Augen auf. Eine Frau in Weiß stand im Rahmen. Ich schloss die Augen. Leise kam sie näher, süßer Fliederduft folgte ihren federnden Schritten. Lange stand sie neben mir, bis erneut knarrend die Tür aufging.
»Was machst du denn hier?«, flüsterte ein Mann. Verstohlen sah ich zu ihm. Es war Vater.
»Ich wollte ihn bloß sehen«, antwortete die Schwester flüsternd. »Er ist so schön.«
»Julie«, sagte Vater.
»Ich wollte bloß sehen, wie er aussieht. Ist das zu viel verlangt?«
»Gut«, sagte er nach einer Weile. »Wecke ihn aber nicht.«
»Keine Sorge.«
Die Tür schloss sich. Julie setzte sich in den Lehnstuhl am Bett. Ich tat so, als wäre ich vom Ächzen des Stuhlpolsters, auf dem sie sich niedergelassen hatte, aufgewacht. Blinzelnd gab ich vor,
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