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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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darüber sprechen. Aber ich bin von deinem Fall abgezogen worden. Ich habe keine Verpflichtungen mehr. Keine Rechte und keine Verpflichtungen.«
    Sie lachte heiser.
    »Meine Grille?«, wiederholte Daniel erstaunt. »Was bedeutet das?«
    »Kennst du Carlo Goldonis Geschichte von Pinocchio? Die Holzpuppe, die Leben eingehaucht bekommt und ein Mensch wird? Sie bewegt sich und redet wie ein normaler Junge. Ihr fehlt nur eines: ein Gewissen.«
    »Ich habe den Film von Walt Disney gesehen«, sagte Daniel.
    Ihr Blick sagte ihm, dass das nicht zählte.
    »Statt eines Gewissens hat Pinocchio eine Grille auf der Schulter sitzen, die ihm zuflüstert, was richtig und was falsch ist. Am Ende, nach vielen harten Erfahrungen und dem ständigen Einflüstern der Grille bekommt Pinocchio ein eigenes Gewissen und wird ein richtiger Mensch. Fachsprachlich könnte man sagen, die Einflüsterungen der Grille werden ihm implementiert. Verstehst du?«
    »Ehrlich gesagt: nein.«
    Sie beugte sich zu ihm und flüsterte mit übertriebenen Lippenbewegungen:
    » Corinne ist dein stellvertretendes Gewissen .«
    Daniel lachte.
    »Sie hat mir noch nie irgendwelche moralischen Anweisungen gegeben.«
    »Natürlich nicht. Das wäre auch nicht sehr effektiv gewesen. Es geschieht viel subtiler. Du gehörst zu einer Gruppe von Versuchspersonen, die alle eine eigene Grille haben. Man hat dir einen Chip ins Gehirn operiert. Mit Hilfe eines kleinen Apparats kann deine Grille dein Verhalten beeinflussen.«
    »Konditionierung?«
    Daniel versuchte, ganz ruhig zu klingen, obwohl er schauderte. Ein Chip in seinem Kopf? Das konnte nicht sein. Wann sollte das gemacht worden sein? Gisela Obermann redete Unsinn. Schließlich war sie krankgeschrieben wegen Burn-out. Außerdem war sie betrunken.
    »Wenn du so willst. Aber es handelt sich nicht um Stromstöße oder ähnliche Grobheiten. Es ist ein extrem feinkalibriges Instrument, das elektromagnetische Strahlung auf niedriger Frequenz aussendet. Schau nicht so beunruhigt. Es ist weniger gefährlich als ein Mobiltelefon, behauptet Doktor Pierce. Wenn die Versuchsperson sich manipulativ oder empathielos verhält, kann die Grille mit einem Druck dafür sorgen, dass die Person ein Unbe
hagen empfindet. Keine Schmerzen, aber ein unangenehmes Gefühl und ein klein wenig Angst. Wenn die Person hilfsbereit, selbstlos und mitfühlend ist, kann die Grille ihr mit ihrem Apparat ein vages Gefühl des Wohlbefindens vermitteln.«
    »Und wie weiß man, dass die Hilfsbereitschaft der Versuchsperson nicht gespielt ist? Sie lügt vielleicht und tut nur so«, bemerkte Daniel skeptisch.
    »Die Grillen durchschauen so etwas. Sie sind gut trainiert für ihre Aufgabe.«
    »Sie manipulieren also die Versuchspersonen?«
    Er glaubte ihr kein Wort.
    »Ja. Man könnte sagen, sie wenden ihre Waffen gegen sie. Das ist eigentlich nichts Besonderes. Das machen wir Menschen doch täglich miteinander. Auch wenn die meisten Eltern es nicht zugeben würden, sie bedienen sich der Manipulation, um ihre Kinder zu erziehen. Ein bekümmertes Stirnrunzeln, wenn das Kind etwas falsch macht. Ein Lächeln, wenn es sich richtig verhält. Das passiert ganz unbewusst. Man kann es zwischen Chefs und Untergebenen, Lehrern und Schülern, zwischen Eheleuten und zwischen Spielkameraden beobachten. Ganz kleine Signale in Form von Mimik, Körpersprache und Stimme. Und es funktioniert, weißt du auch, warum?«
    »Nein.«
    »Das Gehirn hat spezielle Nervenzellen, so genannte Spiegelneuronen, deren hauptsächliche Funktion es ist, die Gefühle unserer Mitmenschen zu spiegeln. Diese Spiegelung macht uns empathisch und sozial reif. In der Psychotherapie haben wir dieses Spiegelphänomen bewusst genutzt, und zwar lange bevor es biologisch erforscht war.«
    »Aber jemanden mit Hilfe eines einoperierten Chips zu manipulieren ist doch etwas ganz anderes als Kindererzie
hung und Psychotherapie«, wandte Daniel ein. »Das ist ein Übergriff.«
    Gisela Obermann nickte nachdenklich, drehte die Katze auf den Rücken und kraulte ihr den Bauch.
    »Das ist etwas anderes, das stimmt.« Sie lallte ein wenig. »Ich habe beschrieben, wie normale Menschen mit einem normalen Neuronensystem funktionieren. Viele unserer Bewohner in Himmelstal haben völlig unterentwickelte Spiegelneuronen. Über die Ursachen wissen wir noch nicht viel. Aber es gibt eine deutliche Abweichung. Weißt du noch, was ich gesagt habe, als ich dir zum ersten Mal von Himmelstal erzählt habe? Von einem Psychopathen Empathie

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