Himmelstal
zu fordern ist wie von einen Lahmen zu verlangen, dass er aufsteht und geht. Er hat einfach nicht, was man dazu braucht. Seine Spiegelneuronen sind so unterentwickelt wie die Beinmuskeln eines Lahmen.«
»Ich erinnere mich, dass Sie das gesagt haben. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ein Fenster aufmache? Hier drinnen ist es ein bisschen stickig.«
Er schob einige Papierstapel auf dem Fensterbrett beiseite und stieß das Fenster auf. Zwischen den Häusern war niemand zu sehen, nur der Wachmann, der an seinem Häuschen lehnte und rauchte. Ein paar Spatzen pickten am Grill ein paar Krümel auf.
Daniel atmete tief die herbstliche Luft ein, kehrte zu seinem Sessel zurück und sagte vorsichtig.
»Sie haben einen Chip erwähnt.«
Gisela Obermann nickte.
»Da Psychopathen sich nicht vom Stirnrunzeln ihrer Eltern beeinflussen lassen und auch für Therapie nicht zugänglich sind, müssen wir etwas handfester werden«, erklärte sie und streckte sich nach ihrem Glas.
Die Katze rutschte auf ihrem Schoß zur Seite, als sie sich vorbeugte, aber sie schien jetzt fest zu schlafen und
hing weich über ihrem Schenkel. Sie schob sie wieder zurecht.
»Direkt an der Quelle«, fuhr sie fort und klopfte an ihren Kopf. »Wir setzen also einen Chip ein, der die winzig kleinen Impulse der Grille aufnimmt und das eigene Belohnungs- und Bestrafungssystem des Gehirns in Gang setzt. Unsere Hoffnung ist, dass die Spiegelneuronen dadurch stimuliert werden und wir sie so zum Leben erwecken können. Aber so weit sind wir noch nicht. Bisher ist es nur eine Art … wie soll ich sagen, subtile Dressur.«
Sie machte eine Pause und leerte ihr Glas.
»Davon dürft ihr Bewohner natürlich nichts wissen. Doktor Fischer würde mich auf der Stelle aus dem Tal werfen, wenn er wüsste, dass ich dir vom Pinocchio-Projekt erzählt habe. Aber ich fürchte, er macht es sowieso.«
»Corinne wurde also von Ihnen angestellt? Ihre Aufgabe ist es, andere Bewohner zu manipulieren?«
»Ihre Aufgabe ist es, dich zu manipulieren«, sagte Gisela Obermann und richtete unsicher einen Zeigefinger auf ihn. »Nur dich. Es gibt andere Grillen, die andere Bewohner manipulieren.«
»Wer sind die anderen Grillen?«
Sie schüttelte den Kopf und wedelte abwehrend mit der Hand.
»Ich habe schon viel zu viel gesagt. Bist du sicher, dass ich nicht noch eine Flasche Wein aufmachen soll? Er schmeckt so frisch . Ohne den Wein hätte ich Himmelstal nicht überlebt.«
Daniel schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe immer noch nicht genau, was genau eine Grille ist. Soweit ich weiß, ist Corinne seit einigen Jahren hier im Tal.«
»Du weißt ganz genau, seit wann sie hier ist«, sagte Gisela ärgerlich und drehte sich auf dem Sessel hin und her,
dass der weiche Körper der Katze Wellenbewegungen auf ihrem Schoß machte. Sie schien nahezu bewusstlos zu sein.
»Versuch es nicht mit der Nummer, dass du nicht Max bist. Deine multiplen Persönlichkeiten waren nur eine Finte, oder? Und ich Idiot bin darauf hereingefallen.«
»Es war Ihre Idee, Doktor Obermann. Ich habe kein Wort von multiplen Persönlichkeiten gesagt«, bemerkte Daniel ruhig. »Corinne ist also eine Art Psychologin oder Ärztin? Hat sie deshalb Zugang zu meinem Krankenblatt?«
Gisela Obermann lachte auf.
»Corinne ist Schauspielerin, weißt du das nicht? Die Grillen haben ganz unterschiedliche Berufe. Sie werden sehr sorgfältig ausgewählt und getestet, und sie bekommen eine gründliche Ausbildung. Man braucht bestimmte Fähigkeiten, um eine gute Grille zu werden. Einfühlungsvermögen, Hellhörigkeit, soziale Kompetenz. Aber man muss auch viel aushalten. Corinne ist hierhergekommen, um deine Grille zu sein. Sie hat alle Informationen über dich bekommen, sie soll wie eine normale Bewohnerin hier leben, im Dorf wohnen und arbeiten und sich mit dir anfreunden.«
Daniel musste schlucken.
»Liebe? Sex? Gehört das auch zur Tätigkeitsbeschreibung?«
»Absolut nicht. Die Grille soll dem Bewohner nahekommen, aber auf keinen Fall mit ihm oder ihr intim werden. Allein die Andeutung einer sexuellen Annäherung bestraft die Grille mit Unlustgefühlen.«
»Und wenn es nicht funktioniert?«
»Dann muss man Verstärkung rufen. Alle Grillen stehen im direkten Kontakt mit der Wachzentrale.«
Daniel dachte nach.
Von draußen hörte man den Piepston, als das Tor geöffnet wurde, und kurz darauf sprach der Wachmann mit jemandem. Einer der Ärzte kam offenbar von der Arbeit.
Gisela Obermann schien nichts zu hören. Sie lag
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