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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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anderen Bewohners?«
    Corinne machte ihm ein Zeichen, leiser zu sprechen. Sie schaute über ihre Schulter nach hinten. Einer der Gastforscher war aufgestanden und war im Begriff, eine improvisierte Rede auf Karl Fischer zu halten.
    »Das kann ich dir jetzt nicht erklären«, flüsterte sie. »Ich habe also nachgeschaut, wie das Krankenblatt jetzt aussieht. Und es mit dem Ausdruck verglichen, der gemacht wurde, als Max hier ankam. Das Krankenblatt ist inzwischen viel umfangreicher, aber die persönlichen Angaben sind die gleichen. Bis auf einen Punkt. Das Geburtsdatum. Das ist vom 28. Oktober 1975 auf den 2. Februar 1977 verändert worden. Max ist zwei Jahre jünger geworden.«
    »Warum sollte jemand das ändern?«
    »Das genau frage ich mich auch.«
    »Wer hat denn Zugang zu den Krankenblättern der Bewohner?«
    »Nur das Personal. Die Ärzte, die Psychologen und die anderen Forscher. Und einige Schwestern.«
    »Und du«, fügte Daniel spitz hinzu.
    Sie ignorierte seinen Kommentar. Sie beugte sich wieder vor, nahm unter dem Tisch seine Hand und flüsterte:
    »Du musst weg von hier, Daniel. Himmelstal ist ein gefährlicher Ort, und ich glaube, hier passieren Dinge, die nicht passieren dürften. Das Personal ist nicht viel besser als die Bewohner.«
    »Aber jetzt müssen sie mich doch rauslassen. Wie auch immer du an diesen alten Ausdruck aus dem Krankenblatt
gekommen bist, so zeigt er doch, dass ich die ganze Zeit die Wahrheit gesagt habe. Max und ich sind Zwillinge, und das macht meine Geschichte glaubwürdig.«
    Corinne schaute zu den Gastforschern hinüber, die gerade eine neue Runde Bier bekamen. Dann wandte sie sich Daniel zu und fuhr, immer noch seine Hand haltend, mit leiser Stimme fort:
    »Wir haben einen noch stärkeren Beweis. Ich habe heute in der Kirche zwei Kerzen angezündet. Die eine war für Mattias Block, meinen Freund, der im Tal den Tod fand. Die andere war eine Kerze für das Leben. Zum ersten Mal ist in Himmelstal Leben geschaffen worden.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Daniel erstaunt.
    »Ich bin schwanger«, flüsterte sie.
    Um ihn drehte sich alles.
    »Das kannst du nicht sein. Du bist doch …«
    Er brachte das Wort »sterilisiert« nicht heraus. Es klang so hart und endgültig.
    Corinne schüttelte langsam den Kopf. Sie drückte fest seine Hand unter dem Tisch.
    »Ich bin genauso fruchtbar wie du. Wir bekommen ein Kind, Daniel.«
    In dem Moment hörte man langgezogene Akkordeontöne. Der Mann mit dem Tirolerhut stand wieder auf der Bühne. Corinne holte einen Lippenstift aus der Tasche, malte die Lippen nach und zog die Schnüre an ihrem Dirndl-Mieder zurecht. Die Gastforscher klatschten begeistert, sie ging auf die Bühne, ihre Arme pendelten leicht, als sie zu singen begann:
    »Im grünen Wald, dort, wo die Drossel singt.«
    Die Gastforscher jubelten. Der Mann mit der Baseballkappe hob seinen riesigen Bierkrug, Karl Fischer schlug an der Tischkante den Takt.
    Daniel bezahlte und verließ die Bierstube. Die bleiver
glasten Fenster standen weit offen, der Gesang und die Akkordeonmusik folgten ihm durch die Gasse.
    Er musste daran denken, was Samantha über Corinnes Vorleben erzählt hatte. War sie wirklich schwanger oder war es Wunschdenken, Wahnsinn?
    Wenn es wahr war, dann war sie keine richtige Bewohnerin. Aber wer war sie dann?

4. Teil
     
    48  Von außen sah man nur eine dichte, hohe Tannenhecke. Wenn man zwischen den Zweigen durchsah, konnte man direkt dahinter einen stabilen Zaun aus Stahl erkennen. Es gab zwei Tore in der Tannenhecke: ein großes, breit genug, um ein Auto durchzulassen, und auf der anderen, der Klinik zugewandten Seite ein kleineres Tor. Durch dieses hatte Daniel eines Morgens einige Ärzte kommen und zusammen zum Krankengebäude gehen sehen. Da hatte er verstanden, dass sich im Bereich innerhalb der Tannenhecke die Wohnungen der Ärzte befanden.
    Er drückte auf die Klingel neben dem Tor. Eine junge männliche Stimme antwortete über einen Lautsprecher. Daniel beugte sich zur Sprechanlage und sagte:
    »Ich heiße Daniel Brant und möchte Doktor Obermann sprechen. Es ist wichtig.«
    »Tut mir leid«, sagte die Stimme. »Besucher können hier nicht eingelassen werden. Sie müssen sie in ihrem Dienstzimmer aufsuchen.«
    »Das habe ich bereits getan. Aber sie ist offenbar in ihrer Privatwohnung. Bitte teilen Sie ihr mit, dass ich hier bin und dass es wichtig ist.« Daniel gab seiner Rede so viel Gewicht und Autorität wie nur möglich.
    »Einen Augenblick.«
    Aus

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