Himmelstal
sein?«
»Nein, nein. Ich wollte nur für ein Weilchen hierherkommen, bevor ich arbeiten muss. Komm.«
Sie streckte ihm die Arme entgegen, und er lief auf sie zu und küsste sie. Ihre Wangen waren feucht und rot, als hätte sie geweint.
»Und wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht«, sag
te sie. Sie hielt sein Gesicht zwischen ihren Händen und schaute ihn ernst an. »Hast du gehört, dass sie Mattias Block gefunden haben?«
»Ich habe ihn gefunden.«
»Du?«, rief sie erstaunt aus.
Er erzählte ihr, was am Morgen Aufregendes passiert war.
»Kann ich den Zettel mal sehen?«, fragte Corinne.
Er holte ihn aus der Tasche, glättete ihn und gab ihn ihr.
»Erkennst du die Handschrift?«
Er hielt ihn ins Kerzenlicht vor dem Madonnenbild.
»Das ist keine echte Handschrift«, sagte sie nachdenklich. »Das wurde übertrieben ordentlich mit Druckbuchstaben geschrieben. Wie auf einer Geburtstagskarte. Jemand, der sich verstellt.«
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich muss nach Hause, mich fertig machen«, sagte sie und steckte den Zettel in die Tasche. »Karl Fischer kommt heute Abend mit den Gastforschern in die Bierstube. Es ist ihr letzter Tag in Himmelstal.«
47 Die Stimmung schien bestens zu sein, und Daniel setzte sich an seinen Lieblingstisch in der Ecke.
Corinne sang das beliebte Lied von den Kühen und läutete ihre Glocke, ihr Begleiter, der Mann mit dem Tirolerhut, sang dann mit ihr zusammen ein zweistimmiges Lied, das Daniel noch nie gehört hatte.
Die Gastforscher saßen an zwei zusammengeschobenen Tischen nahe der Bühne und waren aufgedreht und ein wenig betrunken. Sie sangen den einfachen Refrain »falleri fallera« mit und stampften im Takt, dass der Boden bebte. Sie hatten eine intensive Woche hinter sich. Von morgens bis abends waren sie mit dem Bösen und dem Leiden konfrontiert worden, in stark konzentrierter, wissenschaftlicher Form. Aber jetzt, in Karl Fischers sachkundiger Gesellschaft und mit ein paar diskret im Lokal verteilten Wachen fühlten sie sich entspannt und sicher.
Die Musik verstummte, und die Künstler traten ab. Die Gastforscher riefen nach einer Zugabe, aber Corinne winkte ihnen abwehrend zu. Der Tirolermann verschwand in der Küche, und Corinne setzte sich an Daniels Tisch. Sie hatte Schweißperlen auf der Stirn und nahm dankbar einen Krug Bier entgegen, den der Mann von Hannelore ihr hinstellte.
»Ich könnte kotzen«, sagte sie leise mit einem Nicken in Richtung der Forscher und fuhr fort:
»Ich habe mir diesen Zettel genau angeschaut und mit anderen handgeschriebenen Papieren verglichen.«
»Was für Papiere?«, fragte Daniel.
»Alle möglichen. Notizen vom Personal hier in der Klinik. Ich habe nichts gefunden, was dieser Schrift ähnlich wäre. Ich glaube nicht, dass die betreffende Person das
mit ihrer eigenen Handschrift geschrieben hat. Aber ich habe etwas anderes Interessantes gefunden.«
Sie steckte die Hand in die Schürzentasche und schob ihm diskret ein gefaltetes DIN -A4-Blatt hin. Daniel faltete es auf dem Schoß auf und betrachtete es. Es war ein handgeschriebener Text.
»Das Hirtenmädchen«, las er. »Wenn die Sonne aufgeht …«
»Die andere Seite«, sagte Corinne.
Er drehte das Papier um.
»Was ist das?«
»Das Krankenblatt von Max«, sagte sie leise. »Eine Kopie der ersten Seite.«
In der schlechten Beleuchtung konnte er es kaum lesen, aber es sah tatsächlich aus wie der Auszug aus einem Patientenbericht.
»Woher hast du das?«, fragte er erstaunt.
»Das kann ich dir jetzt nicht erklären. Das ist ein Ausdruck, der gemacht wurde, als Max hier aufgenommen wurde. Persönliche Angaben und Lebensgeschichte. Etwas ist interessant. Schau mal ganz oben, wo das Geburtsdatum steht. Und weiter unten in der Spalte familiäre Situation. Max und sein Bruder Daniel haben das gleiche Geburtsdatum. Der gleiche Tag, der gleiche Monat, das gleiche Jahr. Also Zwillinge.«
Daniel sah von dem Papier hoch.
»Diese Angaben sind richtig. Aber warum behaupten Gisela Obermann und Karl Fischer, dass Max keinen Zwilling hat? Können die nicht lesen, was in so einem Krankenblatt steht?«
»Das habe ich auch gedacht«, sagte Corinne. Sie lehnte sich über den Tisch und flüsterte: »Ich habe mich also eingeloggt und geschaut, wie das Krankenblatt jetzt aussieht.«
Daniel starrte sie an. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn, aber der beschlagene Bierkrug stand noch unberührt neben ihr.
»Wieso hast du Zugang zum Krankenblatt eines
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