Himmelstal
Gefühle und völlig überflüssig. Je mehr ich diesen Patienten zuhörte, desto erstaunter war ich. Da ich selbst so etwas nie verspürt habe, interessierte es mich sehr. All diese Angst. Dieses Leiden. Menschen mit gesunden, funktionierenden Körpern, denen es ausgezeichnet gehen könnte, hätten sie nicht diese ganzen Gefühle .«
Er spuckte das Wort aus, als würde es schlecht schmecken.
»Aber sind es nicht gerade die Gefühle, die uns zu Menschen machen?«, protestierte Daniel.
»Und wer entscheidet, was ein Mensch ist? Ist das ein für alle Mal festgelegt? ›Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Tier und Übermensch‹, sagte der alte Nietzsche.«
Daniel wollte etwas sagen, aber Doktor Fischer fuhr eifrig fort:
»Ist es ein Gesetz, dass der Mensch leiden muss? In meiner Praxis habe ich angststillende Medikamente verschrieben, die eine vorübergehende Linderung brachten. Pflaster auf die Wunde. Aber ich will keine Pflaster kle
ben. Ich will nicht zudecken. Ich will das Böse wegnehmen . Stell dir vor, Daniel: Wenn wir das Böse für immer entfernen könnten, wäre das nicht phantastisch?«
»Ich verstehe immer noch nicht, wie …«, versuchte es Daniel noch einmal, aber Fischer ließ sich nicht unterbrechen, er fuhr im gleichen aufgeregten Tonfall fort:
»Was haben Schuldgefühle nicht alles hervorgebracht! Du sprichst mit einem Deutschen, vergiss das nicht.« Er drohte streng mit dem Finger. »Wir sind Experten für das Thema Schuld. Nach dem Ersten Weltkrieg sollten wir gebrochen und erniedrigt werden. Nicht genug damit, dass wir gigantische Reparationen bezahlen und alle unsere Kolonien abtreten mussten und unsere Armee verloren haben. Am erniedrigendsten war, dass wir gezwungen wurden, einen Paragrafen zu unterschreiben, in dem wir die Schuld am Krieg übernahmen. Wir waren also an unserem Leiden selbst schuld! Niemand kann eine solche Schuld tragen. Das hat Bitterkeit hervorgebracht und die Sehnsucht nach Vergeltung. Das heißt, nach einem neuen Krieg. Schuld ist die Ursache für Leiden, Leiden ist die Ursache für Schuld. Das ist ein ewiger Kreislauf. Ich sage: Brich ihn! Nimm die Schuld weg.«
»Ich glaube dennoch nicht, dass ich mit einem Menschen zusammen sein könnte, der kein Schuldgefühl hat«, sagte Daniel leise.
»Aber wenn alle gleich sind? In meiner Welt gibt es keine zartbesaiteten Pedanten wie dich. Schau nicht so schockiert. Was hat dir deine Sensibilität gebracht? Deine Depression – hat sie dir gutgetan?«
»Woher wissen Sie, dass ich eine Depression hatte?«, rief Daniel erstaunt aus, aber Karl Fischer ging nicht darauf ein.
»Du schleppst in einer hochtechnisierten Gesellschaft eine Steinzeitseele mit dir herum, das ist dein Problem,
Daniel. Die Welt braucht Menschen, die erfindungsreich, konkurrenzfähig und hart im Nehmen sind. Die Gewerkschaft und der Staat werden nicht mehr für dich sorgen. Du musst dich selbst durchkämpfen. Die meisten schaffen es nicht. Aus denen werden arbeitslose, verwirrte Wracks, die Psychologen, Alkoholproduzenten und die Pharmaindustrie reich machen. Ich habe all die Leute so unglaublich satt, die Geld mit dem Leiden verdienen. Psychotherapeuten, Pillendreher und Gesundbeter. Pfarrer, Schriftsteller und Künstler. Sie sind alle Parasiten auf den empfindsamen Gewissen der Menschen, ihren leidenden Seelen!«
Karl Fischer hatte sich in eine ekstatische Wut hineingeredet, und Daniel wollte protestieren, aber er fühlte sich eigenartig leer. Er wusste, dass Fischer nicht recht hatte, fand jedoch plötzlich keine Argumente mehr. Vielleicht lag das an den Tabletten.
»Ich bin dennoch nicht Ihrer Meinung«, sagte er lahm.
Fischer lächelte freundlich und nahm sich zusammen.
»Natürlich nicht. Du bist ein Teil von alledem und kannst es nicht objektiv sehen so wie ich. Aber glaub mir: Die übertriebene Sensibilität des Menschen ist ein Überbleibsel eines früheren Entwicklungsstadiums. Wie die Körperbehaarung. Du brauchst sie nicht mehr, und deshalb steht es dir frei, sie zu entfernen.«
Aus Doktor Fischers Brusttasche klangen die spritzigen Töne des Forellenquintetts. Er unterbrach sich und nahm das Gespräch an.
»Ausgezeichnet«, sagte er und steckte das Handy zurück. »Das war Doktor Kalpak. Deine Blutwerte sind hervorragend und du bist völlig gesund. Wir können also so schnell wie möglich mit der Behandlung beginnen.«
»Behandlung? Welche Behandlung?«
»Das dauert zu lange, es jetzt zu erklären. Kurz zusam
mengefasst
Weitere Kostenlose Bücher