Himmelstal
könnte man sagen, es ist wie das Pinocchio-Projekt, nur umgekehrt.«
Daniel holte tief Luft, und mit einer Stimme, die sehr viel ruhiger klang, als er sich fühlte, sagte er:
»Sie wollen also eine Holzpuppe aus einem Menschen machen?«
»So würde ich es vielleicht nicht beschreiben. Aber die Puppensymbolik scheint dir zu gefallen. ›Eine Kasperlepuppe, in die jemand seine Hand gesteckt hat.‹ Hast du dich nicht selbst so beschrieben?«
Daniel erstarrte.
»Woher wissen Sie das?«
»Du hast dich deinem Psychiater gegenüber so beschrieben. Du hast ihn aufgesucht wegen deiner Depression, nicht wahr?«, sagte Doktor Fischer und ging zum Bücherregal und suchte einen Ordner.
»Ich verstehe nicht, wie Sie Zugang zu solchem Material bekommen.«
»Ich habe ein großes Kontaktnetz. Und wir Ärzte müssen uns gegenseitig unterstützen, wenn es vorwärtsgehen soll.«
Er kam mit einem Ordner zurück und schob Teetassen und Teller beiseite.
»Patientenblätter unterliegen der ärztlichen Schweigepflicht«, wandte Daniel ein.
»Manchmal geht das Wohl der Allgemeinheit vor«, murmelte Fischer und blätterte im Ordner. »Dieser Meinung war zumindest dein Psychiater, nachdem ich ihn habe wissen lassen, dass ich von seiner sexuellen Beziehung zu einer Patientin Kenntnis habe. Eine Information, die, wenn sie in falsche Hände gelangt, seiner Karriere und seiner Ehe großen Schaden zufügen könnte. Aus deinen Gesprächen mit ihm geht hervor, dass du … hier haben wir es: ein schwaches Selbstwertgefühl hast und dich dein Le
ben lang von deinem Bruder dominiert gefühlt hast. Ja, du hast dich selbst als eine ›blasse Kopie‹ von ihm beschrieben . Sehr interessant. Du hast versucht, deine eigene Rolle im Leben zu finden, aber ohne deinen Bruder hast du dich immer leer und hohl gefühlt, bereit, vom erstbesten Menschen, der dir nahekommt, gefüllt zu werden. Eine Kasperlepuppe . Ganz genau.«
Er schlug den Ordner mit einem Knall zu.
»Als ich das las, wusste ich, dass du von großem Wert für mich sein würdest. Du bist zwar nicht so, wie ich gehofft hatte. Aber du hast alle Voraussetzungen, es zu werden.«
56 Der Operationssaal sah sehr provisorisch und primitiv aus, wie geschaffen, um schnell die Opfer einer Katastrophe versorgen zu können: unausgepackte Pappkartons, Apparaturen, die in eine Ecke geschoben worden waren, und ein Plastikeimer voller schmutziger Wattetupfer.
Zu seiner eigenen Überraschung war Daniel nicht besonders nervös. Vermutlich wegen der Spritze, die Doktor Kalpak ihm gerade gegeben hatte. Der Chirurg hatte sie plötzlich und unvermittelt in der Hand gehalten, als hätte er sie aus dem Ärmel geschüttelt. Sie enthielt offenbar das gleiche Mittel, das er am Morgen in Tablettenform bekommen hatte, denn wieder hatte er das Gefühl, zu schwimmen oder Wasser zu treten. Folgsam ließ er sich von den beiden Wachen auf eine Art modernen Zahnarztstuhl drücken, der mitten im Operationssaal stand. Er war mit einem grünen Papier bedeckt, das nach dem letzten Patienten offenbar nicht gewechselt worden war, denn es hatte überall dunkle Flecke und war stellenweise eingerissen, als ob der Patient nicht hätte stillliegen wollen.
Doktor Kalpak führte einen surrenden Gegenstand auf Daniel zu, und als er sah, dass es sich um einen normalen Rasierapparat handelte, war er so erleichtert, dass er laut lachte. Doktor Kalpak lachte auch und entblößte eine schneeweiße Zahnreihe, er zog den Apparat über Daniels Kopf und ließ die dunklen Haare in Büscheln zu Boden fallen.
»Wie beim Friseur, was?«, rief er fröhlich.
Karl Fischer tauchte an Daniels anderer Seite auf. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen kleinen Metallstab, vielleicht fünf, sechs Zentimeter lang. Daniel betrachtete ihn erstaunt.
»Was haben Sie da?«, fragte er.
Fischer drehte den Stab zwischen seinen Fingern, als suche er noch nach einer Antwort.
»Betrachte ihn als die Hand, die dich füllen wird.«
Daniel war mit dieser Antwort nicht zufrieden, aber bevor er etwas sagen konnte, rollte ein donnerartiges Grollen durch die Unterwelt und brachte alle Flaschen und Instrumente auf den Regalen zum Klirren.
»Meine Güte, sie sprengen wieder«, rief Doktor Kalpak. »Wir müssen warten. Ich kann nicht operieren, wenn es bebt.«
»Ist schon vorbei. Nur keine Sorge«, sagte Doktor Fischer ruhig.
»Keine Vibrationen! Absolut keine Vibrationen!«, fuhr Doktor Kalpak ängstlich fort. »Er darf keinen Millimeter daneben
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