Himmelstal
das Pflaster von Doktor Kalpaks Blutabnahme sagten ihm etwas anderes. Trotz der Tabletten war er in einem Zustand der Wachsamkeit und Anspannung, und er bekam die Scheibe Toast mit Rhabarbermarmelade, die Doktor Fischer ihm gerichtet hatte, fast nicht herunter.
»Ich lade meine Patienten gern zu einer Tasse und einem Plauderstündchen ein. Ja, natürlich nicht alle. Aber Patienten wie dich schon, Daniel.«
Daniel schaute zum Vorhang in der linken Hälfte des Raums, der, wenn er sich richtig erinnerte, die Tür verbarg, durch die sie am Abend zuvor gekommen waren. Die Verbindung zum offiziellen Tunnelsystem. War es nicht so?
»Ich schätze intelligente Gesprächspartner. Iss nur, mein Freund. Stört dich etwas? Ach so, die Tür da drüben. Du brauchst einen Code und eine Magnetkarte, um herauszukommen. Außerdem ist immer eine Wache in der Nähe. Den Gedanken kannst du also aufgeben. Du trinkst deinen Tee ohne Milch, wenn ich mich recht erinnere.«
Doktor Fischer goss Milch in seine eigene Tasse und rührte um.
»Es ist nichts drin«, sagte er, als er sah, dass Daniel seine Tasse nicht anrührte. »Du hast die Medikamente bekommen, die du für den Moment brauchst. Ich hoffe, ich habe eine gute Wahl getroffen. Ausgeglichen und harmonisch, aber klar genug im Kopf für eine angeregte Konversation.«
Dann beugte er sich vor, als wollte er Daniel ein Geheimnis anvertrauen, und fügte mit leiser Stimme hinzu:
»Ich halte eigentlich nichts von Psychopharmaka. Das ist primitiv und grob. In Zukunft werden wir uns eleganterer Hilfsmittel bedienen.«
Daniel nippte vorsichtig am Tee.
Doktor Fischer nickte zufrieden, räusperte sich und sagte:
»Wie du gemerkt hast, verfolgen wir hier in Himmelstal viele Forschungsprojekte. Wir arbeiten hier auf sehr breiter Front, bis wir herausgefunden haben, worauf die Psychopathie beruht und wie man sie am besten heilt. Du kennst eines der Projekte, das Pinocchio-Modell von Doktor Pierce, wo man den Psychopathen als Holzpuppe betrachtet, die fast, aber noch nicht ganz zum Menschen geworden ist. Du wirst verstehen, dass ich die Puppentheorien von Doktor Pierce nicht teile. Ist ein Psychopath weniger menschlich, nur weil er kein Gewissen hat? Hier kommt es natürlich darauf an, wie man den Begriff Mensch definiert.«
»Was für ein Projekt ist das da drinnen?«, unterbrach Daniel ihn, er interessierte sich nicht für Definitionen.
Doktor Fischer lehnte sich im Sessel zurück und fuhr ruhig fort.
»Du findest mich zu philosophisch? Tatsache ist, dass die Philosophie, die Medizin und die Psychiatrie sich immer mehr annähern. Warum hat die Evolution den Menschen mit einem Gewissen versehen?«
Daniel wusste nicht, ob das eine rhetorische Frage war oder ob eine Antwort von ihm erwartet wurde. Er entschied sich für Letzteres:
»Um aggressive und egoistische Impulse zu dämmen. Ohne Gewissen würden wir uns gegenseitig umbringen und ausrotten.«
»Wirklich?«, rief Karl Fischer mit gespielter Verblüffung aus. »Hat eine Ratte ein Gewissen? Oder eine Kreuzotter?«
Dieses Mal schwieg Daniel.
»Wohl kaum. Gewissen ist keine notwendige Eigen
schaft für das Überleben einer Art. Also warum haben wir es?«
Daniel antwortete nicht, Karl Fischer war nicht an einem Gespräch mit ihm interessiert. Er wollte ein Publikum.
»Vermutlich«, fuhr der Doktor fort und machte eine Kunstpause, um Spannung aufzubauen, dann trank er einen Schluck Tee, »vermutlich entwickelte es sich, damit der Stärkste der Gruppe nicht allen anderen das Essen wegaß. Das Überleben der Gruppe war wichtiger als das Überleben des Individuums, und hungrige, bittende Blicke waren Signale, die ein selbstloses Verhalten auslösten. In dieser primitiven Form war das Gewissen nicht mehr als ein Instinkt, eine innere Stimme, so wie Tiermütter instinktiv auf das Wimmern ihrer Jungen reagieren. Aber der Mensch hat, im Unterschied zum Tier, die Fähigkeit, gegen seine innere Stimme zu handeln. Und deshalb hat er außerdem noch eine das Verhalten steuernde Feinheit bekommen, die nur er besitzt, nämlich: Schuld. Ein Thermostat, der ausschlägt, wenn er sich allzu weit vom Programm entfernt. Wahrscheinlich hat das in der Steinzeit perfekt funktioniert. Aber heute? Leben wir als Herde in der Wildnis, Daniel? Nein, wir sind Individuen, die auf einem Markt zusammenarbeiten und konkurrieren. Gewissen und Schuld sind für unser Überleben etwa so nötig wie ein Blinddarm. In Wahrheit kommen wir ohne sie ausgezeichnet, vermutlich
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