Himmelstal
erschöpft ist.«
»Aber«, wandte Daniel ein, »diese Hyperaktivität ist doch ein Symptom deiner Krankheit und nicht deren Ursache.«
»Bist du sicher? Vielleicht hat man sich getäuscht und nicht begriffen, was Henne und was Ei ist. Vielleicht habe ich jahrelang eine falsche Diagnose bekommen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto wahrscheinlicher finde ich, dass ich unter einem ständig wiederkehrenden Erschöpfungssyndrom gelitten habe. Erschöpfung kann sich sehr unterschiedlich ausdrücken.«
»Aha«, sagte Daniel und gähnte. »Wenn wir nicht bald nach Hause und ins Bett gehen, bekomme ich ein Erschöpfungssyndrom. Und ich will mir gar nicht vorstellen, wie sich das ausdrücken kann.«
Aber kaum hatte er das gesagt, da drangen Akkordeontöne durch das Gemurmel im Lokal, und im nächsten Moment hörte man eine weibliche Singstimme, ziemlich dunkel und mit einem deutlichen Rhythmus. Daniel drehte sich erstaunt um.
Im Schein eines Spots am anderen Ende des Lokals stand eine junge Frau in einer Art Trachtenkleid mit Schnürmieder und Puffärmeln und sang. Sie wurde begleitet von einem älteren Herrn in geblümter Weste, eng anlie
genden Kniebundhosen und einem flachen, albernen Hut mit Blumen an der Krempe.
»Touristenunterhaltung, sieh an«, rief Daniel aus. »Ich dachte, wir wären weit weg von den Touristenzentren, aber dann kann ich vielleicht doch ein Hotel hier in der Nähe finden.«
»Na ja«, sagte Max ungerührt. »Touristenunterhaltung würde ich das nicht nennen. Eher Ortsansässige, die andere Ortsansässige unterhalten. Sie treten jede Woche an ein paar Abenden hier auf. Die Frau, die singt, arbeitet sonst an der Bar. Willst du zuhören oder sollen wir gehen?«
»Wir können doch nicht gehen, wo sie gerade angefangen hat. Wir warten noch ein wenig«, meinte Daniel.
Die Frau sang übertrieben artikuliert, unterstrich den Text mit den Händen und durch Blicke, als handle es sich um ein Kinderlied. Und doch verstand Daniel kaum ein Wort ihres Schweizerdeutschs. Hin und wieder schwang sie eine Kuhglocke. Es war ein langes Lied mit einem erzählenden, lustigen Text, so viel verstand er, und nach ein paar Versen wusste er, wann die Kuhglocke wieder kommen würde.
»Das dauert noch ewig. Wir gehen jetzt«, sagte Max, aber Daniel schüttelte den Kopf.
Etwas an der Sängerin faszinierte ihn. Schmale braune Augen, einen rot geschminkten Mund und eine kleine rundliche Nase mit einer Andeutung von Sommersprossen. Die schokoladenbraunen Haare trug sie in einem kurzen Pagenkopf, der Pony war wie mit dem Lineal geschnitten.
Daniel betrachtete sie und versuchte herauszufinden, wie es sich mit ihrer Schönheit verhielt, die sie auf irgendeine Weise besaß, die aber keineswegs offensichtlich war. Sie war auf eine betörende, puppenhafte Art und Weise
hübsch, aber darunter lag ein anderes Gesicht mit kräftigen, bäuerlichen Zügen, die man aber nur aus einem bestimmten Blickwinkel sah. Daniel konnte sich vorstellen, wie ihre älteren Verwandten aussahen und wie sie eines Tages aussehen würde. Die bäuerlichen Züge unter der Schönheit waren spannend und minderten ihre Attraktivität keineswegs.
Aber eigentlich waren die Augen das Schönste an ihr, dachte er plötzlich. Sie glitzerten wie Sterne, und wenn sie den Kopf stillhielt und die Augen hin und her bewegte, war es, als sprühte das Glitzern ins Publikum hinein.
Ihre Singstimme war nichts Besonderes, und der ganze Auftritt hatte etwas Lächerliches. Übertrieben. Absurd. Die aufgesperrten Augen, die sich wie bei einem Spielzeug von rechts nach links bewegten. Die albernen Gesten: gekreuzte Arme, schräg gelegter Kopf und unbewegliche Hüften. Der rote Gummibandmund.
Und dazu der dickliche, rotwangige Mann mit seiner Ziehharmonika und seinem blöden Hut, das musste doch ein Scherz sein? Eine Parodie auf die schlimmsten Klischees der Alpenkultur.
Paradoxerweise war die ganze Vorstellung trotz ihrer Klarheit und der kindlichen Einfachheit völlig unverständlich. Daniel hatte noch nie einen so merkwürdigen Dialekt gehört. Es ging um Kühe, so viel verstand er auf jeden Fall. Kühe und Liebe. Wahnsinnig! Wahnsinnig und geschmacklos, und gleichzeitig, das musste Daniel zu seiner Überraschung zugeben, unglaublich faszinierend. Er saß da wie verzaubert und konnte seine Augen nicht von dem Mädchen lassen.
Irgendwann war das Lied zu Ende, und sie nahm den matten Applaus entgegen, indem sie knickste und kokett den Rock schürzte. Daniel fand das
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