Himmelstal
verschwenden.«
Daniel konnte sich nicht erinnern, dass sie für heute einen Ausflug geplant hätten.
»Du weißt, dass ich heute weiterfahren will«, erinnerte er ihn.
Und um nicht undankbar zu klingen, fügte er hinzu: »Es war sehr nett gestern. Das Essen war ausgezeichnet. Die Bierstube hat mir auch gefallen. Aber mir ist es nicht recht, dass du für mich bezahlst.«
Der Bruder machte eine abwehrende Handbewegung und sagte:
»Ich finde, wir sollten erst einmal richtig zusammenkommen. Und du hast ja noch gar nichts von der herrlichen Gegend hier gesehen. Warst du schon einmal Forellen angeln?«
»Nein.«
»Da hast du etwas verpasst. Das ist unglaublich spannend. Totale Konzentration. Du solltest es wirklich einmal versuchen. Wo ich den Proviant, die Angeln und die Fahrräder schon für uns organisiert habe. Ich wäre wirklich sehr enttäuscht, wenn du jetzt schon abhauen würdest.«
Daniel gab auf.
Vor der Hütte standen zwei Mountainbikes, aus den Seitentaschen ragten längliche Futterale, in denen die Angeln waren, wie Daniel vermutete.
Sie schoben die Räder zum Hauptgebäude der Klinik, Max verschwand durch den Kücheneingang und kam kurz darauf mit Plastikschachteln und Bierflaschen zurück, die er in den Taschen verstaute. Dann rollten sie den Abhang hinunter, sie bogen nach rechts ab und folgten einer kleinen Straße oberhalb des Dorfs.
Bald hatten sie die Häuser hinter sich gelassen, jetzt lag das Tal vor ihnen, so intensiv grün, dass Daniel ein Gefühl
von Unwirklichkeit überkam. Als wäre er in einem Computerspiel.
Auch die Geschwindigkeit war irgendwie unwirklich. Konnte er so schnell Rad fahren? Es war das reinste Rennen. Das musste am Rad liegen, es hatte eine phantastische Gangschaltung, keinerlei Widerstand. Sie flogen nur so dahin.
Vielleicht lag es auch an der Luft. Alles um ihn herum war deutlich und klar, bis ins kleinste Detail, er konnte jede Blume von weitem erkennen.
Sie fuhren durch ein schmales Gletschertal. Auf ihrer Seite stieg der Berg in gras- und waldbewachsenen Hängen an. Oberhalb war der Berg kahl und steil, Steine waren herabgestürzt, es sah aus wie in einem riesigen Steinbruch.
Auf der anderen Seite gab es keine Hänge. Da erhob der Berg sich senkrecht wie eine Mauer, es sah merkwürdig aus. Eine Autostraße führte den Fels entlang, weiter vorne konnte Daniel einen Transporter sehen. Ja, er war ja selbst auf dieser Straße gekommen. Es war die mit Tüpfelfarn und Moos bedeckte Felswand.
Max radelte voraus, er beugte sich tief über den Lenker, wie ein Rennfahrer. Ab und zu drehte er sich um und lächelte Daniel zu. Er hatte ein attraktives Lachen mit strahlend weißen Zähnen. Er sah gut aus, dachte Daniel, und im selben Moment fiel ihm ein, dass er dann wohl auch gut aussah. Als eineiiger Zwilling hatte man ja diese Möglichkeit, die nur wenigen Menschen gegeben war: sich selbst von allen Seiten und aus allen möglichen Perspektiven zu sehen. Von hinten, im Profil und auf einem Fahrrad. Es war doch etwas anderes, als sich im Spiegel anzuschauen, falsch herum und seitenverkehrt. Beobachtet und Beobachter zugleich.
»So sehe ich also ohne Bart aus«, dachte Daniel und be
schloss, sich den Bart abzurasieren, sobald er wieder zu Hause war.
Der Bart hatte eine eigene Geschichte. Daniel ließ ihn wachsen, als er neunzehn war, und er erinnerte sich genau an den Anlass.
Er war in London, um Max zu besuchen, der zur Untermiete in Camden wohnte. Der Bruder hatte ihn überschwänglich begrüßt und war mit ihm in die Stadt gegangen.
Daniel kaufte auf einem Markt ein T-Shirt mit einem frechen Aufdruck, und Max kaufte das gleiche und zog es sofort an. Daniel gefiel das nicht, aber als Max ihn bat, seines auch anzuziehen, ging er doch darauf ein. Max legte einen Arm um Daniels Schulter und lachte, wenn die Leute sie anstarrten und mit dem Finger auf sie zeigten. Daniel fühlte sich unwohl, als ob ihre Ähnlichkeit ein Gebrechen wäre.
Sie kamen in eine Straße, in der ein Pub neben dem anderen lag. Daniel wäre lieber in ein anderes gegangen, aber Max schob ihn in ein Pub, das groß, verraucht und laut war, im Fernsehen lief ein Fußballspiel.
Als Daniel mit Max an der Bar stand, bemerkte er ein Mädchen, das allein an einem Tisch saß und aß. Sie war weißblond, mager und sah irgendwie durchsichtig aus, wie aus milchigem Glas. Ihre Bewegungen hatten etwas Auffälliges, wie sie die Gabel hob und geradeaus schaute, ohne den Blick zu fixieren. Es hatte etwas
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