Himmelstal
weiße Fell vibrierte weich und leicht an ihrem Gesicht.
Das Fenster war angelehnt. Draußen sang eine Amsel. Sie hörte Stimmen und das Geräusch von Metall auf Steinplatten. Kurze Zeit später roch sie brennende Grillkohle. Schon wieder ein Personalfest. Sie hatte nicht vor, hinzugehen.
Sie schloss die Augen, das weiche Fell der Katze streichelte ihre Wange, und sie stellte sich vor, es sei Doktor Kalpaks Hand. Auf einem Personalfest würde sie Doktor Kalpak nicht treffen, er nahm nie daran teil. Sie erinnerte sich noch genau, wie seine Hand sich angefühlt hatte, als sie neu in der Klinik war und ihn begrüßte. Schmal und braun, und mit den längsten Fingern, die sie je gesehen hatte. Sie sah nicht aus wie eine Hand, eher wie ein eigenständiges Wesen. Ein Tier. Ein flinkes, geschmeidiges, seidiges Tier. Vielleicht ein Iltis.
Sein singender Akzent passte gut hier in die Berge, weich und aufsteigend, wie die Österreicher oder die Norweger. Aber seine wirkliche Sprache waren die gestikulierenden Hände, wenn man sie sah, hörte man fast nicht mehr, was er sagte.
Gisela Obermann hatte sich von fast all ihren Träumen verabschiedet. Einen nach dem anderen hatte sie losgelassen und im harten Wind des Lebens davonfliegen sehen. Aber den Traum, einmal die Hände von Doktor Kalpak auf ihrem nackten Körper zu spüren, den behielt sie, und sie holte ihn hervor, wenn sie allein war.
Sie schloss die Augen und spürte, wie der Wein Wirbel in ihrem Gehirn auslöste. Ihr fiel ein, dass Max heute Besuch bekam. Von seinem Bruder. Max war der einzige unter ihren Patienten, der ihr noch einen Funken Hoffnung gab. Was würde dieser Besuch mit ihm machen?
Die Katze steigerte die Drehzahl ihres Schnurr-Motors.
»Ich liebe Tiere, weil sie lebendig sind, ohne menschlich zu sein.« Wer hatte das gesagt? Majakowski, Dostojewski?
Gisela dachte wieder an Doktor Kalpaks Hände. Zwei Seideniltisse, die über ihren Körper liefen. Der eine über ihre Brüste, der andere über ihren Bauch und zwischen die Beine.
9 Draußen war es dunkel geworden. Spärlich verteilte Laternen beleuchteten die Spazierwege im Park. Max und Daniel gingen den Hügel hinunter ins Dorf.
»Du scheinst in der Klinik ein und aus zu gehen, wie du willst«, stellte Daniel fest.
»Natürlich. Die Gäste würden etwas anderes auch nicht akzeptieren. Wenn ich nur brav um zwölf Uhr in meinem Bett bin, kann ich tagsüber machen, was ich will.«
Am Ende des Hügels kamen sie auf eine schmale, asphaltierte Straße, die Beleuchtung war dichter und heller, wie auf einer Joggingspur. Ein lustiges kleines Elektrofahrzeug in Hellgelb näherte sich ihnen mit weichem Surren. Der Fahrer grüßte, als er vorbeifuhr. Er trug eine Art Uniform, wie ein Hausmeister oder ein Hotelportier, und neben ihm in dem engen Fahrerhäuschen saß ein Mann, der genauso gekleidet war. Daniel vermutete, dass sie zum Klinikpersonal gehörten. Max grüßte zerstreut zurück und überquerte rasch die Straße. Sie kamen an ein paar Häusern vorbei, bogen um eine Ecke und befanden sich plötzlich im Zentrum des Dorfs.
Häuser mit blumengeschmückten Balkons umgaben einen kleinen Platz mit einem Springbrunnen in der Mitte. Hinter Bleiglasfenstern brannten Lampen, und aus einem offenen Fenster hörte man Stimmen und Hundegebell, das von den Felswänden des engen Tals widerhallte. Es war ein merkwürdiger Gedanke, dass Menschen in dieser Märchenwelt wohnten und ein normales Leben führten.
Max bog in eine Gasse ein und blieb vor einem braunen Haus stehen. In einem kleinen Garten baumelten bunte Lampen in den Bäumen.
»Hannelores Bierstube«, erklärte Max unnötigerweise,
denn genau das stand in weißen, schnörkeligen Buchstaben über dem Eingang.
»Ich dachte, es wäre das Pfefferkuchenhaus der Hexe«, sagte Daniel.
»Wer weiß?«, sagte Max. »Traust du dich trotzdem rein?«
»Ich habe wirklich Lust auf ein Bier. Das mit dem Kaffee und dem Kognak vergessen wir. Ein großer Krug kaltes Bier, genau danach ist mir. Lass uns reingehen. Es sieht nett aus.«
»Das haben Hänsel und Gretel auch gesagt«, sagte Max und ließ Daniel vorausgehen.
Max schien Stammgast im Pfefferkuchenhaus zu sein, denn er setzte sich sofort in eine dunkle Ecke des Lokals, hob zwei Finger Richtung Tresen und bestellte so, ohne ein Wort zu sagen, zwei Bier. Eine kräftige, ältere Frau nickte ihm zu, und kurz darauf brachte sie zwei riesige Krüge Bier. Sie stellte sie resolut auf den Tisch. Sie hatte Arme wie
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