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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Nachtrunde«, erklärte er im Vorbeigehen, den Mund voller Zahnpastaschaum.
    Unter seinen halb geschlossenen Augen sah Daniel, wie eine Frau in einem hellblauen Kostüm (eine »Hostess«, wie man sie offenbar nannte) und ein Mann in einer hellblauen Steward-Uniform ein paar Schritte in die Hütte kamen und stehen blieben, freundlich lächelnd und nickend.
Sie warfen einen Blick durchs Zimmer und entdeckten Daniel unter seiner Decke.
    »Schläft dein Bruder schon?«, flüsterte der Mann. »Dann schlaf auch du gut, Max, ich wünsche euch morgen einen schönen Tag zusammen.«
    Max antwortete mit der Zahnbürste im Mund etwas Unverständliches. Der Mann und die Frau gingen. Daniel konnte hören, wie sie bei der nächsten Hütte anklopften und ein paar Worte mit dem Bewohner wechselten. Und dann noch ein Klopfen weiter weg.
    Er schloss die Augen. Alles, was er an diesem langen, merkwürdigen Tag erlebt hatte, rauschte durch sein Gehirn, ungeordnet und zusammenhanglos. Stimmen, Sinneseindrücke, Kleinigkeiten, die er bewusst gar nicht wahrgenommen hatte.
    Im Grenzland des Traums tauchte eine Erinnerung auf, kristallklar bis ins kleinste Detail: die uniformierten Männer, die das Taxi angehalten hatten. Ihre Gesichter unter den Schirmmützen. Der Metalldetektor. Die unbefahrene, schattige Straße. Die Felswände mit dem Tüpfelfarn, die kleinen Rinnsale und der Geruch nach Stein und Feuchtigkeit. Einen Moment lang war sein Gehirn hellwach und von einer Unruhe erfüllt, die er erst jetzt wahrnahm.
    Dann sank er widerstandslos in den Schlaf. Seine Träume waren, wie nicht anders zu erwarten, wirr und unzusammenhängend. Nur einer setzte sich fest und hielt sich bis zum nächsten Vormittag: Corinne in ihrem Trachtenkleid. Sie stand mitten auf der leeren Straße neben dem Felsen und schwang die Kuhglocke über ihrem Kopf. Er hielt an – er fuhr das Auto selbst, im Traum gab es keinen Fahrer – und stieg aus.
    Sie läutete mit der Glocke, der Ton hallte am Fels wider. Dann kam sie zu ihm und führte die Glocke an seinem Körper entlang, sie scherzte und lachte dabei.
    Als sie die Glocke vor seine Brust hielt, wurde sie plötzlich ernst, als hätte sie etwas entdeckt. Langsam führte sie die Glocke näher an ihn heran. (Sein Oberkörper war jetzt nackt, vielleicht schon die ganze Zeit.) Sie drückte die Glocke gegen seine Haut, da, wo das Herz war, zog konzentriert das Gesicht zusammen, ihre Augen wurden schmale Spalten, und sie schien auf etwas zu lauschen.
    Er wusste, was sie gehört hatte, er hörte es jetzt selbst: Sein Herz klopfte so schnell und so laut, dass es ihn fast sprengte.
    »Sie hat es entdeckt! Jetzt ist alles verloren«, dachte er. Als ob sein Herz ein blinder Passagier wäre, den er hereinschmuggeln wollte und der sich nun verraten hatte.
    Aber im Traum hieß die Frau nicht Corinne, sondern Corinte, das wusste er, obwohl keiner ein Wort gesagt hatte. Es hatte etwas mit ihren Augen zu tun.

 
    10  Beim Aufwachen am nächsten Morgen roch er als Erstes gebratenen Speck. Als er die Augen aufschlug, war die Hütte von starkem Sonnenschein erhellt. Max stand am Herd.
    Daniel schaute blinzelnd auf seine Armbanduhr, und zu seiner Überraschung sah er, dass es schon zwanzig nach neun war. Er wachte sonst immer um Viertel vor sieben auf, ob Werktag oder Feiertag, ob mit oder ohne Wecker. Unglaublich, dass er so lange hatte schlafen können, in hellem Sonnenlicht und dem Lärm von Max' Küchentätigkeiten.
    »In fünf Minuten gibt es Frühstück«, sagte Max leicht angestrengt, er klapperte mit Tellern und schloss mit einem Knall die Backofentür.
    Daniel ging ins Badezimmer, duschte schnell, und mit dem Gefühl, zu spät zu kommen, setzte er sich an den Tisch, an dem Max bereits frühstückte. Der Blick aus dem Fenster zeigte das Tal mit der steilen Felswand im Süden.
    »Über schlechten Schlaf kannst du auf jeden Fall nicht klagen«, sagte Max und schenkte Daniel Kaffee ein. »Aber es ist gut, dass du ausgeschlafen bist, denn heute machen wir einen Abenteuerausflug. Wir fahren mit dem Fahrrad ein Stück in die Berge und angeln an meinem Lieblingsplatz.«
    »Mit dem Fahrrad?«
    »Ja, und komm mir nicht mit der Ausrede, dass du kein Fahrrad hast, das habe ich alles schon organisiert, während du schliefst. Ich habe uns in der Küche ein Proviantpaket bestellt. Ich hätte auch selbst was machen können, aber ich habe nicht mehr genug im Kühlschrank, und ich finde, wir sollten keine Zeit mit Einkaufen

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