Himmelstal
sind. Warum? Also«, sagte Max und zeigte mit seiner Gabel auf Daniel, »wenn eine Hungersnot kommt, können die Völker der Ebene in andere Gegenden ausweichen, um Nahrung zu finden. Die langbeinigen, beweglichen überleben, während die plumpen Fettklöße auf ihren dicken Hintern sitzen bleiben und verhungern. Isoliert auf einer Insel, im dichten Dschungel oder einem eingeschneiten Alpental nutzen dir die langen Beine nichts. Du musst bleiben, wo du bist, und ausharren, bis die Zeiten wieder besser werden. Wenn man da eine zusätzliche Fettschicht hat, überlebt man Hungerzeiten besser.«
Daniel nickte.
»Klingt vernünftig. Wo wir von Hunger reden. Ich war wirklich hungrig, und diese Forelle ist ausgezeichnet. Scheint total frisch zu sein. Ist sie hier in der Gegend gefangen worden?«
»Die Forelle? Ja klar. In der Stromschnelle da drüben. Vielleicht habe sogar ich sie gefangen.«
»Du?«
»Oder jemand anders. Ich fische mehr, als ich essen kann, und dann gebe ich die Fische im Restaurant ab.«
Die Bedienung kam wieder an ihrem Tisch vorbei, die Hände voller Geschirr. Max streckte eine Hand aus und klatschte ihr leicht auf den Po.
»Das war wirklich unnötig«, sagte Daniel vorwurfsvoll.
Max lachte.
»Ein paar Verrücktheiten kann ein Verrückter sich erlauben. Man muss schließlich die Erwartungen erfüllen. Aber man muss wissen, wo die Grenzen sind. Sonst sind sie sofort mit Zwangsjacke und Spanngurten hier, und dann tauscht man das Luxusleben gegen die Folterkammer im Keller.«
»Aber warum bist du eigentlich hier, Max? Es scheint dir ausgezeichnet zu gehen.«
Max' scherzhaftes Lächeln verschwand. Er streckte sich und sagte ernst:
»Ich arbeite jetzt in Italien, wie du vielleicht weißt. Olivenöl.«
»Nein, das habe ich nicht gewusst«, sagte Daniel überrascht.
»Das ist eine harte Branche. Besonders wenn man Ausländer ist. Ich habe es ziemlich weit gebracht, das muss ich schon sagen, aber der Erfolg hat seinen Preis. Da hat man keine Vierzig-Stunden-Woche. In letzter Zeit habe ich eigentlich Tag und Nacht gearbeitet.«
»Oh«, sagte Daniel leise. Er wusste, was es bedeutete, wenn Max Tag und Nacht arbeitete.
»Ich bin gegen die Wand gelaufen, wie man so sagt. Das gilt für die meisten hier in der Klinik. Das Arbeitsklima für Leute in Spitzenpositionen ist heutzutage unmensch
lich. Und da meine ich nicht Schweden, das ist ein Kindergarten, verglichen mit dem restlichen Europa. Hier hält es niemand sonderlich lang auf einem Chefposten aus. Darüber redet man nicht laut, aber die meisten klappen irgendwann zusammen. Das gehört zum Konzept. Wir sind wie Formel-1-Wagen, müssen regelmäßig in die Box, um Reifen zu wechseln und Brennstoff nachzufüllen. Dann können wir weiterfahren.«
Max machte eine Drehbewegung mit dem Finger und freute sich über seinen gelungenen Vergleich.
»Das hier ist also die Box?«, sagte Daniel und sah sich im Restaurant um, wo sie jetzt die einzigen Gäste waren.
»Jawoll. Himmelstal ist eine Box. Vielleicht die beste in ganz Europa. Und jetzt genehmigen wir uns einen Kaffee mit Kognak.« Max schlug mit der Handfläche auf den Tisch. »Aber nicht hier«, fügte er hinzu. »Ich kenne ein nettes Lokal im Dorf. Komm.«
Er knäulte die Serviette zusammen und stand auf.
Daniel schaute sich nach der Bedienung um. Er wollte das Essen bezahlen, wusste jedoch nicht, wie es hier vor sich ging.
»Im Dorf?«, sagte Daniel. »Aber kannst du die Klinik so einfach verlassen?«
Max lachte.
»Natürlich. Das ist der Witz an Himmelstal. Schreib's auf mich, Schatz«, rief er der unsichtbaren Bedienung zu und schritt forsch auf den Ausgang zu.
8 Moselwein. Kalt, köstlich, wie aus einer Quelle tief in der Erde.
Gisela Obermann hätte lieber aus ihren geerbten böhmischen Kristallgläsern getrunken als aus den langweiligen Gläsern aus Massenproduktion, die es in der Personalwohnung gab. Aber sie hatte ihre Gläser einem wohltätigen Verein für einen Flohmarkt geschenkt. Sie hatte alles verschenkt, als sie das Angebot bekam, in Himmelstal zu arbeiten. Sie hatte sich von ihrer schönen Wohnung getrennt und eine lange, destruktive Beziehung beendet. Sie hatte nur ein paar Kleidungsstücke von guter Qualität behalten, ein wenig Fachliteratur und Schneeflöckchen, ihre Katze.
Gisela legte sich aufs Bett, kuschelte sich an die langhaarige Katze und sog deren schwachen, sauberen Duft ein. Im Gegensatz zu Hunden rochen Katzen immer gut.
Die Katze schnurrte, das
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