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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Wissenschaftler. Gisela vermutete, dass sie in einer der oberen Etagen des Verwaltungsgebäudes wohnten, wo auch die Schwestern und Hostessen ihre Unterkünfte hatten.
    Sie hatte selbst kein Projekt. Das war der Fehler. Sie war mit offenen Sinnen hierhergekommen und hatte gehofft, dass das stimulierende Milieu sie kreativ machen würde. Dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie in Gang kam. Das war falsch gedacht.
    Sie hatte schon lange aufgehört, den anderen bei den Besprechungen zuzuhören. Stattdessen betrachtete sie die Alpenlandschaft vor dem Fenster oder Doktor Kalpak, der immer schweigend und mit geschlossenen Augen dasaß, als ob er schliefe. In ihren Gedanken nannte sie ihn Doktor Schlaf. Er schien immer in einem dösenden, halb schlafenden Zustand zu sein, auch mit geöffneten Augen. Auch seine Patienten sahen aus, als würden sie schlafen. Nein, nicht schlafend. Bewusstlos.
    Wie schön wäre es, betäubt zu werden. Gisela war noch nie narkotisiert worden, aber sie hatte andere davon reden hören. Alles verschwindet, Schmerzen, Gedanken,
Träume. Alles. Wie der Tod, nur dass man wieder aufwacht. Und unter diesem vorübergehenden Tod tritt eine Besserung ein. Das Böse wird weggeschnitten. Vielleicht wird etwas Neues eingesetzt. Man wacht gesünder auf, schöner, fröhlicher.
    Gisela wollte oft sterben. Aber sie wollte nicht auf ewig tot sein. Eine Narkose wäre perfekt. Da konnte man ihr das Böse nicht wegschneiden. Aber sie war überzeugt davon, dass allein die Narkose ihr guttun würde.
    Was würde Doktor Kalpak sagen, wenn sie ihn bitten würde, sie zu narkotisieren? Für ein paar Stunden vielleicht, oder ein paar Wochen?
    Nein, sie durfte nicht mehr so denken. Sie musste sich wach halten. Sie musste nüchtern bleiben. Sie musste sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Sie brauchte ein Projekt.

 
    16  Daniel nahm den Weg, auf dem er und Max am Tag zuvor mit dem Fahrrad gefahren waren. Sie waren sehr schnell gesaust, alles war irgendwie unwirklich gewesen. Die Geschwindigkeit. Das intensiv grüne Gras. Die übersinnlich klare Luft, die in seine Lungen eindrang.
    Jetzt hatte er die Ruhe, sich umzuschauen. Er war erstaunt, wie eng das Tal war, kaum einen Kilometer breit und auf beiden Seiten von hohen Bergen umschlossen. In der Mitte floss der Wildbach. Das Wasser war zinkgrau, es wirbelte wie eine Brausetablette in einem Glas. Vielleicht konnte man auch da unten angeln? Er würde es noch einmal versuchen.
    Seine Blicke wurden von der südlichen Felswand angezogen, sie war senkrecht, wie eine riesige Mauer. Jetzt, wo von der Seite das Sonnenlicht einfiel, traten die Details der Oberfläche deutlich hervor. Es schien eine andere Gesteinsart zu sein als auf der Nordseite. War es Sandstein? Kalkstein? Die Oberfläche war glatt und gelbweiß. Stellenweise gab es Vertiefungen und Höhlen, wie groß sie waren, war schwer abzuschätzen, und kein Mensch würde je zu ihnen gelangen. Einige dieser Vertiefungen schienen von Schwalben bewohnt zu sein, sie kreisten über der Felswand. Aus anderen flossen kleine Bäche, die sich im Fels einen Durchgang gegraben hatten und jetzt durch die natürlichen Fallrohre sickerten und als Rinnsale weiter den Fels hinunterliefen. Das ständige Fließen hatte lange schwarze Spuren auf der gelblichen Oberfläche hinterlassen. Manche hatten menschliche Formen angenommen, als diente die Felswand als Hintergrund für ein riesiges balinesisches Schattentheater mit dreißig Meter großen Figuren.
    Die Nordseite des Tals, wo die Klinik lag, war nicht so
steil. Der Berg erhob sich langsam, ein gras- und waldbewachsener Hang, bevor er sich zu voller Größe aufrichtete, grau und nackt, mit herabgerutschtem Geröll.
    Im Westen öffneten sich die Berge wie ein aufgestoßenes Fenster am Ende eines Korridors. Und durch diese Öffnung konnte er in der Ferne einen schneebedeckten Gipfel erkennen, er glitzerte in der Sonne, geradezu königlich, genau wie man sich die Alpen vorstellt.
    Daniel nannte den südlichen Berg Die Wand und den nördlichen Geröllhalde und staunte im nächsten Moment über sich selbst. Warum taufte er Dinge an einem Ort, den er bald verlassen würde?
     
    Bisher war er in strahlendem Sonnenschein gegangen, aber jetzt kam er zu einem engen Durchgang, der im Schatten des Bergs lag. Das Tal wurde zusammengeschnürt wie ein krampfender Darm. Der Kontrast zwischen hell und dunkel war scharf, und für einen Moment war er geblendet. Der Mann mit dem Fahrrad, den er plötzlich

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