Himmelstal
Portemonnaie nahm, wo er doch seines mitgenommen hatte.
Er beschloss, um sieben in Hannelores Bierstube zu gehen und dort zu Abend zu essen. Beim ersten Besuch hatte er gesehen, dass es einfache Gerichte gab. Er würde das Buch mitnehmen, lesen und ein, zwei Bier trinken. Davor würde er einen Spaziergang machen, sich das Dorf und die Umgebung anschauen. Spätestens um zehn würde er wieder in der Hütte sein, weiterlesen, auf die Nachtpatrouille warten und schlafen gehen.
Und damit wäre dann sein erster Tag als stellvertretender Patient zu Ende. Es war ein angenehmes Gefühl, ein Programm zu haben.
15 Auf dem Weg in die Ärzteetage fuhr Gisela Obermann zufällig im gleichen Aufzug wie Karl Fischer. Sie hatte schon auf den Knopf gedrückt, als er einstieg. Sein Leinenanzug war zerknittert, und er roch ein wenig nach Schweiß. Sie sah ihn im Spiegel, und während der Aufzug nach oben raste, sagte sein Spiegelbild zu ihrem:
»Dein Anstellungsvertrag läuft bald aus, Gisela. Ich muss dich darauf vorbereiten, dass er nicht verlängert wird.«
»Was habe ich denn falsch gemacht?«, fragte sie.
»Nichts. Aber für eine Verlängerung bedarf es mehr als Fehlerlosigkeit, das wirst du verstehen. Dies ist eine Forschungsklinik. Du kannst keine brauchbaren Ergebnisse vorweisen.«
»Noch nicht. Aber ich habe hier sehr viel Interessantes gesehen.«
»Daraus wirst du in deiner zukünftigen Tätigkeit sicher Nutzen ziehen können. Dein Vertrag läuft im Oktober aus, und ich sehe keine Veranlassung, ihn zu verlängern. Es gibt Hunderte von Wissenschaftlern, die hier arbeiten möchten.«
»Aber Doktor Pierce ist doch erheblich länger hier als ich. Welche Ergebnisse hat er denn vorgelegt? Hat überhaupt irgendjemand schon konkrete Ergebnisse gezeigt?«, rief Gisela aus, ihre Stimme war plötzlich unangenehm schrill.
Der Aufzug war stehen geblieben, und die Türen glitten auf, aber Karl Fischer stellte sich ihr in den Weg. Seine kräftigen Gesichtszüge wurden von tiefen Falten betont. Sein kurz geschnittenes graues Haar stand wie Nägel vom Kopf ab. Hinter ihm konnte sie den Ärztekorridor mit den vielen Türen sehen.
»Es ist nicht an dir, die Ergebnisse von anderen zu beur
teilen«, sagte er ruhig. »Dir fehlt das Wichtigste für die Arbeit hier: Visionen.«
Fischer blieb in der Aufzugtür stehen.
»Hast du schon mit Max gesprochen, seitdem sein Bruder hier war?«, fuhr er fort.
Die Aufzugtüren zuckten ungeduldig, er ignorierte sie jedoch.
»Nein, ich hatte noch keine Gelegenheit. Aber ich werde ihn so bald wie möglich zu mir bestellen. Ich glaube, der Besuch seines Bruders hat ihm gutgetan. Es wird interessant sein, zu hören, was er selbst darüber sagt. Max ist überhaupt ein sehr interessanter Patient.«
»Findest du? Ich finde das nicht.«
Karl Fischer trat zur Seite. Als sie an ihm vorbeiging, sagte er:
»Sie riechen nach Alkohol, Doktor Obermann.«
Sie drehte sich um und sah, wie die Türen zugingen, und Doktor Fischer weiterfuhr. Sie blieb stehen wie festgefroren und lauschte dem Geräusch, mit dem er durch das Krankengebäude glitt.
Doktor Fischer hatte recht. Sie hatte keine Visionen. Weder in Bezug auf die Patienten noch in Bezug auf sich selbst. Alle anderen Wissenschaftler waren mit Theorien nach Himmelstal gekommen, mit Plänen und leuchtenden Vorstellungen. Sie selbst sah gar nichts vor sich. Sie war nur aus ihrem kaputten Leben geflohen. Das war die Wahrheit, auch wenn sie es in ihrer Bewerbung anders formuliert hatte. Die Alpenluft hatte sie gelockt, die Isolation, das enge Tal, das seine Bewohner wie eine Gebärmutter umschloss.
Anfangs hatte der Geist des Neuanfangs in der Klinik sie stimuliert. Die Begeisterung der anderen hatte sie angesteckt wie ein Fieber.
Aber ziemlich bald kam ihr das Leben hier genauso sinnlos vor wie das Leben da draußen. Die Arbeitsgemeinschaft, auf die sie so sehr gehofft hatte, gab es nicht.
In der Freizeit waren die Wissenschaftler viel zusammen. Fast jeden Abend gab es in einem der Personalhäuser ein Fest. Aber was die Arbeit betraf, so hielt sich jeder an sein Gebiet und hütete es eifersüchtig. Alle taten sehr geheimnisvoll. Oft verstand sie gar nicht, wovon bei den Besprechungen die Rede war. Sie glaubte nicht, dass die anderen alles verstanden. Doktor Fischer war offenbar der Einzige, der über alle Projekte Bescheid wusste.
Er nahm nie an den Festen teil, ebenso wenig wie Doktor Kalpak. Sie wohnten auch nicht im Wohnbereich der
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