Himmelstal
auf den Tisch. »Er ist aus dem gleichen Grund hier wie alle anderen, und er bekommt nicht mehr Schutz als alle anderen. Er ist eine überaus listige, intrigante Person, die sich über psychische Anomalitäten schlau gemacht hat und nun versucht, uns untereinander auszuspielen.«
»Doktor Fischer!«, rief Gisela aus. »Achten Sie auf Ihre Worte. Und bedenken Sie, dass der Bewohner anwesend ist.«
»Dann bringen Sie ihn doch weg. Ich glaube nicht, dass seine Anwesenheit noch nötig ist. Er sagt immer nur das Gleiche. Ehrlich gesagt, ich bin ihn leid.«
Gisela stand abrupt auf und nickte Daniel zu.
»Ich bringe dich in dein Zimmer.«
»Das war das«, sagte Karl Fischer, als Gisela Obermann und Daniel gegangen waren. »Sie müssen Nachsicht haben mit Doktor Obermann. Sie hat große Ambitionen und arbeitet hart. Ich fürchte, es ist in letzter Zeit ein bisschen viel für sie gewesen. Hat noch jemand etwas hinzuzufügen, oder können wir die Versammlung auflösen?«
»Eine ganz andere Sache«, sagte Brian Jenkins und wedelte mit einem Blatt Papier. »Das ist die Liste der eingeladenen Forscher zu den Besuchertagen. Da steht ein Name, Greg Jones. Wer ist das denn? Ich habe noch nie etwas von ihm gehört.«
Karl Fischer strich sich mit den Fingern durch die kurzen grauen Haare, dachte einen Moment nach, räusperte sich und sagte:
»Wie Sie wissen, haben wir einen sehr großzügigen anonymen Geldgeber, der Himmelstal mit großen Summen bedacht hat. Das ist dieser Greg Jones. Er möchte nicht, dass ich darüber rede, behaltet es also bitte für euch. Sein
Vermögen stammt aus einer Kosmetikfirma, die sein Vater gegründet hat. Seine Schwester wurde im Alter von elf Jahren von einem Wahnsinnigen gekidnappt. Die Familie war bereit, eine enorme Summe Lösegeld zu bezahlen, aber bei der Übergabe kam es zu einem Zwischenfall, und der Kidnapper bekam das Geld nicht rechtzeitig. Das Mädchen wurde mit durchgeschnittener Kehle in einem Müllcontainer gefunden. Greg Jones möchte, dass wir das Rätsel der Psychopathie lösen. Dank seiner Unterstützung wird uns das vielleicht eines Tages gelingen. Das Wenigste, was wir tun können, ist, ihn nach Himmelstal einzuladen und ihn herumzuführen. Da er kein Aufhebens um seine Person will, zieht er es vor, im Rahmen eines Gruppenbesuchs zu kommen. Ich habe ihm allergrößte Diskretion zugesichert. Er wird genau wie alle anderen Gäste behandelt.«
Brian Jenkins pfiff anerkennend.
»Ein Dollarmilliardär von der bescheidenen Sorte. Ungewöhnlich. Und Greg Jones ist auch nicht sein richtiger Name, oder? Okay. Solange er seine Dollars in Himmelstal investiert, kann er sich nennen, wie er will.«
Gisela Obermann legte ihren Arm mütterlich um Daniels Rücken und führte ihn zum Aufzug und weiter durch die langen Korridore.
»Ich habe Probleme, die anderen von meiner Theorie zu überzeugen«, sagte sie. »Die meisten glauben, dass du mich manipulierst. Und Doktor Fischer drückt sich manchmal etwas harsch aus. Ich hoffe, du nimmst es ihm nicht übel. Gehe ich dir zu schnell?«
Daniel hatte keine Krücken mehr, aber er hinkte noch leicht. Seine Kontaktlinsen fehlten ihm. Er verstand plötzlich, wie es war, alt zu sein. Nicht gut laufen können, nicht gut sehen können. Gisela ging etwas langsamer.
»Wenn ich bedenke, was ich hier schon alles habe ertragen müssen, spielen ein paar harsche Worte keine Rolle«, sagte Daniel. »Was bedeutet übrigens ›Lämmchen‹?«
»Lämmchen ist Himmelstal-Slang. So nennen die Bewohner uns andere. Menschen mit Empathie und Gewissen. Wir sind Lämmchen. Für sie sind wir dümmer und stehen in der Rangliste unter ihnen, aber gleichzeitig finden sie uns irgendwie attraktiv, glaube ich. Rein, unschuldig. Wir haben etwas Schönes für sie. Wir Ärzte gehören wohl nicht zu den Lämmchen. Auch nicht das Servicepersonal. Wir sind wachsam, wir wissen zu viel. Richtige Lämmchen, die fehlen hier bei uns.«
Daniel musste an Samantha denken, und da fiel ihm etwas ein.
»Es gibt Männer und Frauen hier.«
»Vor allem Männer«, sagte Gisela. »Achtzig Prozent sind Männer. Was nicht unbedingt bedeutet, dass Psychopathie bei Männern häufiger vorkommt, aber bei ihnen äußert sie sich öfter in kriminellen Handlungen, und das macht sie zum Gegenstand rechtspsychiatrischer Untersuchungen. Unsere Bewohner kommen hauptsächlich aus der Rechtspsychiatrie.«
»Aber es gibt ja auch Frauen«, wiederholte Daniel. »Bewohner beiderlei Geschlechts
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