Himmelstal
öffnete, noch weitere
Frauen mit Schal herausholen konnte, immer kleinere, bis man schließlich auf die kleine massive Winz-Hedda stieß.
»Die Sache ist ja sehr umstritten«, sagte Doktor Linz. »Es heißt, dass diese fremden Persönlichkeiten nicht spontan entstehen, sondern unter Hypnose vom Therapeuten hervorgerufen werden. Es ist ein unerwünschtes Ergebnis der Behandlung.«
Gisela strahlte.
»Genau das war auch mein Gedanke! Dass es ein Ergebnis der Behandlung ist. Ein erwünschtes Ergebnis der Behandlung.«
Die anderen schauten sie verständnislos an.
»Ich denke an das Pinocchio-Projekt«, sagte Gisela leise. »Doktor Pierce, was meinen Sie?«
Karl Fischer stöhnte und rutschte auf seinem Stuhl hin und her, als hätte er physische Schmerzen. Pierce warf ihm einen besorgten Blick zu und wandte sich dann an Gisela.
»Tut mir leid, Doktor Obermann. Die Methode, von der Sie sprechen, funktioniert so nicht. Das Verhalten wird nur vorübergehend beeinflusst. Wenn überhaupt. Es finden keine tiefer gehenden Veränderungen in der Persönlichkeit statt. Ich wünschte wirklich … Aber nein. Ich habe noch nichts dergleichen nachweisen können.«
»Bisher nicht. Aber wir stehen vielleicht vor etwas Neuem. Wir haben vielleicht eine Spur«, sagte Gisela optimistisch.
Doktor Pierce lächelte mitleidig.
Gisela Obermann schaute in die Runde, um zu sehen, ob sie bei den anderen Unterstützung und Interesse fand. Aber jetzt schienen sie alle ein wenig gelangweilt zu sein, sogar der junge Gastforscher. Brian Jenkins knipste ungeduldig mit dem Kugelschreiber und betrachtete die Alpenlandschaft vor dem Fenster.
Gisela seufzte resigniert.
»Es war so ein Gedanke. Dass eine Veränderung stattgefunden hat. Und alle Veränderungen lassen hoffen.«
»Es finden keine Veränderungen statt, Gisela«, sagte Doktor Fischer. Er klang sehr müde. »Und es gibt leider auch keinen Grund zur Hoffnung.«
»Aber worin besteht dann der Sinn unserer Forschungen?«, stieß Gisela Obermann wütend hervor. »Wenn wir nicht an die Veränderung glauben? Ist das nicht unsere eigentliche Aufgabe? Augen und Ohren offen zu halten für die kleinste Veränderung und so das Samenkorn für eine Lösung zu finden? Sonst könnten wir ja alle nach Hause fahren und stattdessen Lagerwächter anstellen.«
»Tja, das sollten wir vielleicht wirklich tun«, sagte Doktor Fischer und schaute auf die Uhr. »Nach neun Jahren an diesem Ort neige ich dieser Ansicht immer mehr zu.«
»Doktor Fischer«, sagte Gisela. »Sie sollten sich schämen.«
Sie wandte sich an die anderen.
»Wir machen jetzt eine Pause. Wir treffen uns in einer halben Stunde. Dann wird auch Daniel wieder hier sein.«
Sie stand auf und schaute aus dem Panoramafenster. Zwei große Vögel schwebten nahe an der Felswand. Sie kreisten vor den schwarzen Zeichen hin und her, als versuchten sie, sie zu lesen. Vermutlich Raubvögel.
33 Daniel war schon da, als die Ärzte sich wieder auf ihre Plätze setzten. Zwei Pfleger hatten ihn in seinem Krankenzimmer abgeholt und neben Gisela an die Schmalseite des Tischs gesetzt. Er kam sich vor wie ein Gefangener, der aus seiner Zelle zum Gerichtsprozess gebracht wird. Er sah die Männer und Frauen um den Tisch wie im Nebel. Die Packung mit den Kontaktlinsen war noch in der Hütte, niemand hatte sie ihm geholt, obwohl er mehrmals darum gebeten hatte.
Gisela begrüßte ihn und fing an, Fragen zu stellen wie eine Anwältin.
»Max und du, ihr seid Zwillingsbrüder, habe ich das richtig verstanden?«
»Das habe ich bereits hundert Mal gesagt.«
Alle um den Konferenztisch betrachteten ihn mit größter Aufmerksamkeit, bis auf Doktor Fischer, der schaute demonstrativ an die Decke.
»Kannst du uns bitte erzählen, wer du bist?«
Während Daniel sprach, unterdrückte Doktor Fischer ein Gähnen, wandte sich an Gisela Obermann und sagte:
»Gisela, meine Liebe, warum stehlen Sie uns die Zeit mit diesem Quatsch?«
»Wir müssen ihm zuhören. Ich finde, es ist völlig klar, dass es sich hier um eine neue Persönlichkeit handelt. Er hat keinerlei Erinnerungen an sein Leben als Max«, sagte Gisela.
Hedda Heine bat ums Wort.
»Wenn Doktor Obermann recht hat, dann stehen wir vor einem moralischen Problem. Müssen wir nicht an seine Sicherheit denken? Dann wäre er ja das, was einige unserer Bewohner als ›Lämmchen‹ bezeichnen. Sollte er nicht einen gewissen Schutz bekommen?«
»Absolut nicht«, zischte Doktor Fischer und schlug mit der Handfläche
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