Himmelstal
Hütte musste er dann doch
laufen. Sein Nachbar Marko war nicht zu sehen, dafür war er dankbar.
Mit zitternden Händen schloss er auf. Er ging direkt zur Schlafkoje und zog den Vorhang beiseite. Niemand da. Auch nicht im Badezimmer. Die Hütte sah genauso aus, wie er sie verlassen hatte. Er schloss die Tür von innen ab, sank auf einen Sessel und keuchte wie nach einem Gewaltmarsch. Er war in Sicherheit. Vorübergehend.
In den folgenden Tagen lebte Daniel wie ein Gefangener in seiner Hütte. Er ernährte sich von den vorrätigen Konserven, weiße Bohnen in Tomatensoße, und trank Wasser. Die Tür ließ er verschlossen, die Patrouillen öffneten mit ihrem eigenen Schlüssel, wenn sie morgens und abends zur Kontrolle kamen. Die lächelnden Hostessen, die laut Informationsbroschüre »in erster Linie als Servicepersonal« anzusehen waren, die jedoch »aus Sicherheitsgründen« mit Elektropistolen ausgerüstet waren und immer zu zweit ihren Dienst versahen.
Die Gardinen ließ er geschlossen. Wenn er vorsichtig durch einen Spalt hinausschaute, konnte er abends Marko wie festgeklebt an der Hauswand sitzen sehen. Aus welchem Grund war er wohl in Himmelstal?
Tagsüber war der Nachbar meistens im Haus, aber so gegen sieben Uhr abends hörte man die schlurfenden Schritte auf der Treppe und das Plumpsen, wenn er auf seinen Platz sank. Dann saß er den ganzen Abend da. Wenn Daniel nachts aufstand, um zur Toilette zu gehen, sah er ihn da sitzen und ins Dunkle starren wie ein großes, regungsloses Nachttier.
Was sah Marko in all den Stunden? Denn auch nachts, wenn die meisten schliefen, war das Klinikgelände nicht ganz menschenleer. Um zwölf Uhr nachts und um sieben Uhr morgens musste man in seiner Unterkunft sein, damit
die Patrouille einen zählen konnte. »Was du dazwischen machst, ist deine Sache«, hatte Max gesagt.
Und eigenartigerweise schien das zu stimmen. Gegen halb zwölf wurde es immer unruhig auf dem Gelände, Menschen eilten durch den Park und die Hänge hinauf zu ihren Zimmern und Hütten. Wenn alle zu Hause waren, trat Ruhe ein, nur das Surren des Elektroautos war zu hören und dann das Klopfen der Hostessen und ihre fröhlichen Rufe an den Nachbarhütten.
Eine halbe Stunde später schien das Gelände wieder zum Leben zu erwachen. Ein etwas gedämpfteres Leben als am Tag. Hüttentüren glitten langsam auf, Stimmen flüsterten, und Schatten eilten über die Wiesen. Hin und wieder hörte man diskretes Klopfen an den Hüttentüren, und einmal, zu seinem Entsetzen, klopfte es auch an seiner Tür! »Pssst!«, zischte jemand und drückte langsam und vorsichtig die Türklinke herunter. Daniel lag starr hinter dem Vorhang und traute sich kaum zu atmen. Dann war ein verärgertes Schnauben zu hören, und es wurde wieder still.
Daniel hatte dieses Nachtleben bisher nicht bemerkt, weil er so tief schlief. Aber jetzt lag er oft bis zum Morgengrauen wach, grübelnd und voller Angst, und wenn es ihm doch gelang, einzuschlafen, war sein Schlaf zerbrechlich wie Glas, beim leisesten Rascheln war er hellwach.
Eines Nachts stand er auf und hob die Matratze hoch, um nach dem Bild zu suchen, das Max ihm am Abend vor seiner Abreise gezeigt hatte.
Aber jetzt war es nicht mehr da. Er nahm die Matratze ganz heraus. Das Bild war weg. Das Servicepersonal hatte es wohl gefunden und mitgenommen.
Als er aus der Krankenstation zurückgekommen war, hatte er vier Mails vorgefunden. Eine von Pater Dennis und drei von Corinne. Aber er wollte sie nicht lesen. Das
Handy von Max klingelte mehrmals, aber er ließ es klingeln.
Nachdem er fünf Tage eingeschlossen in seiner Hütte verbracht hatte, klingelte an einem regnerischen Vormittag das Handy so ausdauernd, dass er es hervorholte und auf das Display schaute. Wenn es ein Arzt oder jemand vom Service wäre, würde er drangehen.
Er verpasste das Gespräch, sah jedoch, dass Corinne angerufen hatte und er elf nicht angenommene Anrufe von ihr hatte. Gerade als er das Handy ausmachen wollte, rief sie wieder an. Er drückte auf den Antwortknopf und sagte:
»Ich will nicht mit dir reden.«
»Leg nicht auf«, sagte Corinne. »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Hast du gehört? Vor mir brauchst du keine Angst zu haben.«
Sie sprach ruhig und streng wie zu einem Kind. Er sah sie vor sich. Die blanken braunen Augen, die scharfen Linien der Wangenknochen. In den letzten Wochen war so viel passiert, dass er das Gesicht fast vergessen hatte, die Stimme ließ es jedoch wieder
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