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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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erkannt, nicht wahr?«
    »Nein«, sagte er bestimmt. »Ich habe sie noch nie gesehen.«
    Er log. Er hatte die Frau erkannt, es war die Frau auf dem Foto, das Max unter der Matratze aufbewahrte. Die gleiche Frau, die gleichen Verletzungen. Vermutlich war das Foto bei der gleichen Gelegenheit aufgenommen worden.

 
    32  »Na, was sagen Sie jetzt?«
    Das Bild auf der Leinwand verlosch. Einen Moment lang lag der Konferenzraum im Dunkeln. Gisela Obermann drückte auf einen Knopf, und die Vorhänge glitten raschelnd zur Seite. Blinzelnd blickten die Teilnehmer in das hereinströmende Licht, als würde ein anderer Film dort draußen vor dem riesigen Panoramafenster jetzt beginnen.
    »Das erste Video wurde am 3. Mai in meinem Zimmer aufgenommen. Das zweite ist vom 14. Juli«, sagte Gisela mit dem Rücken zum Naturszenario. Der Himmel über den Bergen war blau, es war dieses durchsichtige, frische Blau, das sie immer durstig machte.
    »Erstaunlich«, sagte Hedda Heine. »Ich verstehe, was du meinst. Es ist der gleiche Mann. Er hat sogar beide Male den gleichen Pullover an. Und doch: Jemand ganz anderes!«
    »Die Körpersprache ist völlig anders«, murmelte Doktor Pierce und blätterte in seinen Unterlagen.
    Philip Pierce hatte den größten Teil seiner Karriere in der Welt der Forschung verbracht und besaß kaum klinische Erfahrung. Immer zurückhaltend, grüblerisch und übertrieben vorsichtig.
    Gisela verstand nicht so recht, warum er hier so gut zurechtkam. Niemand stellte seine Forschungen in Frage, obwohl sie absurd kostspielig und die Ergebnisse mehr als mager waren. Die einzige Erklärung war, dass er keine natürlichen Feinde hatte. Nicht attraktiv genug, dass jemand hätte zubeißen wollen. Diese Kategorie Wissenschaftler konnte in Himmelstal uralt werden.
    »Ihr habt es gehört, der Mann auf dem zweiten Film behauptet, dass er Daniel, der Zwillingsbruder von Max, ist«,
sagte Gisela Obermann. »Wichtig zu wissen ist, dass er tatsächlich einen Bruder hat, wenn auch keinen Zwilling, und dass dieser Bruder ihn vor drei Wochen besucht hat.«
    Eine Frau mittleren Alters in maskuliner Kleidung und Frisur reckte einen Finger hoch.
    »Doktor Linz, bitte sehr.«
    »Seit wann behauptet er, Daniel zu sein?«
    »Der Bruder von Max war vor drei Wochen hier. Er behauptet, sie hätten da getauscht.«
    »Haben Sie den Bruder kennengelernt, Doktor Obermann?«
    »Nein, wir sehen Besucher ja nur selten. Einige vom Servicepersonal haben ihn natürlich gesehen. Sie wissen nur noch, dass er einen kräftigen dunklen Bart hatte, längere Haare und eine Brille. Er sah etwas unkonventionell aus. Beim Auschecken hatte er eine Mütze auf. Es ist natürlich schwierig, die individuellen Züge einer Person mit viel Haar und Bart zu erkennen, besonders aus der Ferne. Aber niemand hat eine auffallende Ähnlichkeit bemerkt.«
    »Und Max hat ja auch keinen Zwillingsbruder«, bemerkte Karl Fischer und nickte in Richtung der nun weißen Projektionsleinwand. »Die Geschichte können wir schon mal zu den Akten legen. Er lügt einfach. Spielt Theater. Sehr geschickt, das gebe ich zu. Aber unsere Bewohner haben ein Leben lang das Lügen und Manipulieren trainiert. Lügen ist ein Teil von ihnen.«
    »Sie sprechen von Lüge«, sagte Gisela Obermann. »Aber ich habe das Gefühl, dass dies etwas anderes ist. Ich bin geneigt zu glauben, dass der Patient sich tatsächlich als eine andere Person sieht.«
    »Dissoziative Identitätsstörung? Multiple Persönlichkeiten? Meinen Sie so etwas?«, fragte Hedda Heine und blinzelte Gisela Obermann zu.
    Gisela nickte eifrig.
    »In diesem Fall handelt es sich also nicht um einen Wechsel zwischen verschiedenen Persönlichkeiten«, sagte sie rasch, als sie Karl Fischers verächtliches Lachen sah. »Ich dachte eher an Fälle, wo eine Person sich in einer unlösbaren Situation befindet und nirgendwo einen Ausweg sieht. Sie hält es einfach nicht mehr aus, die Person zu sein, die sie ist. Die Person lässt Schulden, Familienkonflikte und ihren schlechten Ruf einfach hinter sich und taucht an einem anderen Ort als eine ganz andere Person auf, ohne jegliche Erinnerungen an das vorherige Leben. Wir wissen ja alle, wie unwohl Max sich in Himmelstal gefühlt hat. Er hat das Stadium des Akzeptierens nie erreicht und keinerlei Tätigkeit angefangen wie die meisten anderen Bewohner. Sie wissen von seinen ständigen Versuchen, uns zu bestechen und zu charmieren, nur um herauszukommen. Sein verzweifelter Fluchtversuch durch die

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