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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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Straßenunterführung. Ein Teil von ihm, sein vernünftiger Teil, sieht schließlich ein, dass es keinen Weg hinaus gibt. Er hat seine Freiheit verloren, weil er ist, wer er ist. Aber ein anderer Teil von ihm sucht immer noch nach Auswegen. Und eines Tages flieht er einfach vor sich selbst. Und wird zu einer Person, die niemals nach Himmelstal eingewiesen würde. Die freundlich, bescheiden und rechtschaffen ist. Das Modell für diese Person hat er ein paar Tage lang vor Augen gehabt, er kennt sie seit seiner Kindheit: sein eigener Bruder. Als der Bruder abreist, erschafft er sich neu und nimmt ihn in Besitz.«
    Die Gesichter um den Tisch zeigten die Reaktionen, mit denen sie gerechnet hatte: Skepsis, Verwirrung, Interesse, Verachtung. Nur Doktor Kalpak schien unbeeindruckt, seine mandelförmigen Augenlider waren gesenkt. Sie richtete ihren Blick auf den Kollegen, der sie noch am wohlwollendsten ansah, einen jungen Gastforscher, den sie nicht kannte, und fügte hinzu:
    »Das ist ein unbewusster Prozess, es geschieht nicht bewusst. Aber es macht die Sache leichter, wenn er seinen zwei Jahre älteren Bruder zu seinem Zwilling macht.«
    »Eine faszinierende Theorie, Doktor Obermann«, sagte Karl Fischer, dessen raue Stimme jetzt klang, als hätte er Kreide gefressen. »Und was macht Sie glauben, dass dieser Prozess unbewusst abläuft?«
    »Weil es eine so durchgreifende Veränderung ist. Sie umfasst die ganze Person, Sie haben es doch selbst gesehen.«
    »Hm«, sagte Fischer nachdenklich.
    Er wartete, bis alle wieder still waren, und sprach dann langsam und leise und sehr artikuliert, wie eine Lehrerin vor einer ersten Klasse:
    »Alles, was Sie da anführen, sind Mittel, die ein Schauspieler anwendet. Max ist ein verblüffend guter Schauspieler. Er hat Talent und lebenslanges Training. Sie haben ihn doch letzten Winter im Theater gesehen? Ich muss sagen, ich war beeindruckt. Da haben wir eine ganz andere Person gesehen, nicht wahr? Die Bewegungen, die Stimme, alles war anders. Er macht jetzt genau das Gleiche. Und ist sich seines Tuns voll bewusst. Studieren Sie ihn, wenn er sich unbeobachtet glaubt. Dann kehrt er vermutlich wieder in sein altes Verhaltensmuster zurück.«
    »Dieses Stück«, flocht Doktor Pierce vorsichtig ein. »Wenn ich mich recht erinnere, handelte es von einer Person, die zwei Charaktere in sich trägt, einen bösen und einen guten, und der es gelingt, alle zu täuschen. Max hat vielleicht da die Idee für seinen Betrug entwickelt.«
    »Er düpiert Sie, Gisela«, sagte Karl Fischer kurz.
    Gisela Obermann tat so, als bemerke sie nicht, dass Doktor Fischer die formelle Anrede mit Nachname und Titel, die im Konferenzraum üblich war, aufgegeben hatte.
    »Doktor Fischer«, sagte sie mit ausgesuchter Höflich
keit. »Wir können alle düpiert werden. Wenn wir erst mal glauben, dass wir zu schlau sind, um düpiert zu werden, begeben wir uns in Gefahr. Wir müssen immer wachsam bleiben, und ich bin Ihnen dankbar, dass Sie mich daran erinnern. Dass Max ein außerordentliches schauspielerisches Talent besitzt, müssen wir im Sinn behalten. Mehr als seine physische Erscheinung hat mich aber das selbstlose Verhalten, das er in letzter Zeit gezeigt hat, überzeugt.«
    »Was meinen Sie damit?«, fragte Hedda Heine und schaute sie freundlich über den Brillenrand an.
    »Dass ich ihm glaube und er mich nicht düpiert hat. Er hat sich selbst düpiert. Vielen unserer Patienten ist es ja ziemlich erfolgreich gelungen, sich selbst davon zu überzeugen, dass sie völlig normale, nette Menschen sind. Max ist nur noch einen Schritt weiter gegangen. Seine Sehnsucht, hier rauszukommen ist so stark, dass er sich dank seines schauspielerischen Talents eine neue Persönlichkeit entwickelt hat.«
    »Dissoziative Identitätsstörungen sind bei unseren Bewohnern ausgesprochen selten«, sagte Doktor Pierce. »Ich glaube nicht, dass wir jemals einen diagnostizierten Fall gehabt haben. Und nichts in der Geschichte von Max weist in diese Richtung. Er war immer stabil in seiner Identität.«
    Hedda Heine nickte zustimmend und sagte:
    »Multiple Persönlichkeiten sind überhaupt sehr ungewöhnlich. Ich habe in meiner Praxis nicht einen einzigen Fall erlebt. Nur darüber gelesen.«
    Sie hatte einen Schal mit großen Rosen um die Schultern gelegt und mit einer Brosche befestigt. Als sie von multiplen Persönlichkeiten sprach, hatte Gisela den Eindruck, als verwandle sie sich in eine Matrjoschka, aus der man, wenn man sie in der Mitte

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