Himmelstal
haben ihre schwachen Punkte wie alle anderen. Sie sind eitel und karrieregeil, konkurrieren miteinander, und sie sind lächerlich fasziniert von Psychopathen. Sie sehen uns als exotische Tiere, und Himmelstal ist ihre Serengeti. Jeder Psychopathenforscher träumt davon, ein Stipendium zu bekommen und hier forschen zu dürfen. Ganz nah bei den Bestien.«
»Ich bin kein Psychopath«, sagte Daniel ärgerlich.
Er stand auf und lief in der Hütte umher. Es fiel ihm in letzter Zeit schwer, längere Zeit stillzusitzen.
»Ich auch nicht«, sagte Corinne.
Er blieb stehen und schaute sie an.
»Und warum bist du dann hier?«
»Das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir ein anderes Mal. Nur so viel: Jemand hat sich geirrt. Aber jetzt geht es um dich, Daniel.«
»Du bist irrtümlich hier, und ich bin irrtümlich hier«, rief Daniel. »Wie viele sind denn noch irrtümlich hier?«
»Nicht sehr viele. Es gibt bestimmt oft schlampig ge
stellte Diagnosen. Aber auch wenn vielleicht nicht alle echte Psychopathen sind, solltest du dennoch davon ausgehen. Das ist sicherer.«
»Ich will hier raus!«, schrie Daniel und schlug mit der Faust gegen einen Balken. Es tat weh, aber er schlug weiter gegen den Balken, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Seine plötzliche Wut überraschte ihn selbst.
Corinne wirkte völlig unberührt von seinem Ausbruch. Sie trank ihren Tee, und als er sich beruhigt und wieder gesetzt hatte, sagte sie:
»Natürlich willst du hier raus. Aber das kann dauern. Bis dahin musst du überleben. Ich verspreche dir, dass ich dir helfe, aber meine einzige Hilfe sind gute Ratschläge. Rümpf nicht die Nase. Ein guter Ratschlag kann viel für dich bedeuten. Leben oder Tod.«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Nein, aber ich habe dein Gesicht gesehen.«
»Ich höre«, sagte er demütig.
»Okay.« Sie stellte ihren Teebecher mit einem Klacken auf den Tisch, richtete sich auf und tippte auf ihren linken Daumen. »Erstens: Bleib für dich. Lass dich auf keinerlei Geschäfte, Deals, Freundschaften oder Liebeleien ein. Aber versteck dich auch nicht. Geh jeden Tag zum Mittagessen in den Speisesaal. Setz dich allein an einen Tisch, aber geh hin . Kauf im Laden im Dorf ein. Trink ein Bier in der Bierstube. Geh aufrecht. Weich den Blicken nicht aus. Antworte höflich, aber knapp, wenn du angesprochen wirst. Fang selbst keine Gespräche an. Zeig nie, dass du Angst hast oder schwach bist, aber halt dich fern, wenn es Ärger gibt. Es war mutig von dir, Tom zu überwältigen und Bonnards Leben zu retten, aber ehrlich gesagt, ich finde nicht, dass er es wert war.«
»Ist nicht das Leben eines jeden Menschen wert, gerettet zu werden?«
Sie schaute genervt an die Decke.
»Mein Gott, Daniel. André Bonnard hat kleine Mädchen vergewaltigt und ermordet, die Jüngste war drei. Man kann über den Wert des Lebens solcher Menschen diskutieren, und ich stelle mich dieser Diskussion gerne, aber ein anderes Mal. Du musst vorsichtig sein. In einen Streit zu geraten ist gefährlich. Und Zeuge eines Streits zu werden, kann genauso gefährlich sein. Nichts sehen, nichts hören. Du musst ein großer Egoist werden. Ist das klar?«
Er nickte schweigend.
»Dann«, sagte Corinne und tippte auf ihren linken Zeigefinger, »musst du dich um deinen Körper kümmern. Iss ordentlich, und treibe Sport. Viel Sport. Man weiß nie, wofür man einen starken, beweglichen Körper noch brauchen kann. Du kannst in eine Situation geraten, wo dein Leben von deiner körperlichen Verfassung abhängt. Aber es ist nicht notwendig, dass du den anderen zeigst, wie gut trainiert du bist. Geh also nicht ins Sportstudio. Ich trainiere nie dort, das verstehst du vielleicht. Frauen sind Mangelware in Himmelstal. Und man zeigt sich nicht gerne im Hemdchen und kurzen Hosen und dreht den Körper nach allen Seiten, wenn man von einer Bande Vergewaltiger und Sadisten beobachtet wird. Die Klinikleitung hat Verständnis für meine Einstellung und hat mir erlaubt, in meiner Wohnung im Dorf einen Trainingsraum einzurichten. Sehr spartanisch, nur ein paar Gewichte, aber für mich reicht es. Du kannst gerne zu mir kommen und trainieren, wenn du willst.«
»Danke.«
Seine Wut hatte sich gelegt, und er hörte ihr jetzt gespannt zu.
»So viel zum Körper. Und jetzt die Seele.« Sie tippte auf den Mittelfinger. »Die braucht auch Nahrung. Du liest viel, soviel ich weiß.«
»Woher weißt du das?«
Sie lächelte.
»Du kannst ja nicht mal in der Bierstube bei einem Bier
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