Himmelstal
Personal in weißen Kitteln kam heraus und lief zum Auto.
»Geht weg. Hier gibt es nichts zu sehen«, riefen die Wachen und drängten die Bewohner, die sich um das Auto versammelt hatten, weg.
Eine Trage wurde herausgeholt und schnell zum Haupteingang gebracht. Daniel sah einen jungen bewusstlosen Mann mit einer großen Wunde auf der Stirn. Das Tuch, das seinen Körper bedeckte, hatte große dunkle Blutflecke.
»Vergewaltigt. Wurde im Wald gefunden«, flüsterte jemand.
»Er war ein verdammter Idiot«, schnaubt ein anderer.
»Lebt er noch?«
»Sieht so aus.«
Pater Dennis näherte sich in vollem Ornat. Er blieb in gehörigem Abstand von den anderen stehen, bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet. Das fußlange Messgewand wehte ihm um die Beine, als er rasch zum Elektroauto zurückging und in Richtung Dorf verschwand.
Die Trage war ins Krankenhaus gebracht worden, und der Transporter fuhr weg. Die Menschenansammlung löste sich auf. Die Vorstellung war vorüber.
»Mein Gott, das war doch noch ein Junge. Ein Teenager«, sagte Daniel aufgeregt.
Corinne zuckte die Schultern.
»Alltag in Himmelstal. Das Schlimmste ist, dass man sich daran gewöhnt. Am Anfang fand ich es schrecklich. Jetzt bin ich nur noch froh, dass nicht ich es bin. Und man macht sich Gedanken, was danach passiert. Ob jemand sich rächen wird. Manchmal löst so ein Geschehen eine ganze Kette von Gewalttaten aus. Aber das war eine normale sexuelle Gewalttat. Da passiert nichts mehr.«
Daniel ballte die Faust.
»Ich will hier weg«, sagte er heiser. »Das ist schlimmer als ein Irrenhaus. Schlimmer als ein Gefängnis. Ich werde morgen mit Karl Fischer reden.«
»Du kannst es ja versuchen. Danke für die Einladung. Ich habe lange nicht im Restaurant gegessen. Es macht
keinen Spaß, alleine hinzugehen, und bisher hatte ich niemanden.«
»Ich bringe dich nach Hause«, sagte Daniel.
»Nicht nötig.«
»Doch. Du darfst auf keinen Fall allein ins Dorf gehen.«
»Wenn du mich begleitest, dann musst du allein nach Hause gehen. Es ist besser, wenn ich jetzt gehe, wo viele Leute unterwegs sind. Ich bin nicht allein. Gute Nacht und danke.«
Sie umarmte ihn rasch und lief los, um eine Gruppe einzuholen, die den Hang hinunterging. Als sie ein paar Meter hinter ihnen war, blieb sie stehen und folgte ihnen dann mit Abstand. Sie ist erstaunlich mutig, dachte Daniel und schaute ihr nach.
»Habt ihr im Restaurant gegessen? Das war schlau.«
Daniel drehte sich um und bemerkte Samantha, die vor einem Gebüsch stand und rauchte. Sie stand wahrscheinlich schon lange hier, aber es waren so viele Menschen da gewesen, dass er sie nicht bemerkt hatte. Jetzt war nur noch sie da. Sie war ungeschminkt und trug weite Jeans und eine Polyesterjacke mit Streifen. Mit ihren kurzen Haaren sah sie aus wie ein Straßenjunge, der an einer Ecke stand und auf seine Freunde wartete.
»Was hast du gesagt?«
»Ich habe gesagt, dass es schlau war, im Restaurant zu essen. Du meidest die Bierstube, nicht wahr? Ich würde niemals ein Bier trinken, das sie serviert.«
»Wer?«
Samantha nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und blinzelte ihn schelmisch durch den Rauch hindurch an. Sie legte den Kopf schräg, winkelte den Ellbogen an und schwang die Hand hin und her.
»Dingelingeling«, sagte sie langsam.
Corinne trat immer noch als Hirtenmädchen auf, aber
es war eine Weile her, dass Daniel sie in dieser Rolle gesehen hatte. Er dachte an ihren geduckten, muskulösen Körper und die blitzschnellen Reaktionen, wenn sie den Punchingball bearbeitete. Ihre geheime, starke Seite, weit entfernt von Samanthas verächtlicher Parodie.
Er drehte sich um und wollte zu seiner Hütte gehen, entschied sich dann aber anders. Aus einer plötzlichen Neugier heraus fragte er:
»Warum würdest du kein Bier trinken, das sie serviert?«
»Wenn man bedenkt, was sie gemacht hat.«
»Was hat sie denn gemacht?«
»Weißt du das nicht?«
Samantha schaute in die Dunkelheit und schien nachzudenken.
»Ich sollte es dir vielleicht nicht erzählen. Ich zerstöre möglicherweise dein idyllisches Bild vom Hirtenmädchen.«
Daniel merkte, dass sie eigentlich nichts lieber wollte, als es ihm zu erzählen. Er wartete.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Sie hat Säuglinge vergiftet.«
»Du lügst.«
»Sie war Kinderkrankenschwester. Sie hat was ins Fläschchen getan.«
»Sie war keine Kinderkrankenschwester. Sie war Schauspielerin.«
»Ja, zuerst. Sie wurde schwanger, hatte eine Fehlgeburt und
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