Himmelstal
Herz beruhigte sich. Der Wein, die Salsamusik und die Schläge auf den Sandsack legten sich wie eine dämpfende Schicht über seine erregten Gedanken. Er verfolgte Corinnes Kampf gegen das schwarze, plumpe Monster, das jeden Schlag mit einem ungerührten Schaukeln entgegennahm. Sie war so dünn und doch so stark und ausdauernd und schrecklich wütend.
Erschöpft stolperte sie rückwärts, sank auf die Knie und zog die Handschuhe aus.
»Worüber wolltest du reden?«, keuchte sie.
»Später. Wenn du geduscht hast.«
Während er das Wasser rauschen hörte, überlegte er, wie er die Frage formulieren sollte. Seine Gedanken, die gerade noch messerscharf und klar gewesen waren, wie von einem plötzlichen Blitz erhellt, versanken jetzt in einem dunklen Zweifel, und als sie kurz darauf mit ihrem offenen Mädchengesicht und ihren tropfenden Haaren im Bademantel auf ihn zukam, hatte er fast vergessen, warum er gekommen war.
»Na?«, sagte sie. »Ist dir noch etwas zum Drogenhandel eingefallen?«
»Nein.«
»Was war denn so wichtig, dass es nicht bis morgen warten konnte?«
Sie stand mit gekreuzten Armen da, leicht breitbeinig, und beobachtete ihn durch ihren Pony hindurch. Ein kleines Mädchen in einem zu großen Bademantel.
Plötzlich hatte er es nicht mehr eilig. Das mit den Säug
lingen war nicht wichtig. Merkwürdig. Aber so war es. Vielleicht war es wahr, vielleicht auch nicht. Das spielte keine Rolle. Falls es so gewesen war, dann musste es sich um einen vorübergehenden Wahnsinn gehandelt haben. Er wollte es nicht wissen. Es gab Wichtigeres als die Wahrheit. Dass sie, zum Beispiel, die einzige Person in Himmelstal war, die ihm Freundlichkeit und Wärme schenkte. Die einzige, mit der er reden konnte.
Plötzlich verwandelte sich ihre besorgte Miene in ein Lächeln. Als hätte man an einem Schalter gedreht, gingen in ihrer Iris Tausende, mikroskopisch kleine, silbrige Lämpchen an und blinkten ihm zu. Wie geht das?, dachte er erstaunt. Woher kommt das Licht?
»Nun sag schon«, sagte sie. »Was war so eilig?«
»Das«, sagte er, stand auf und legte sachte seine Hände um ihr Gesicht. Er strich die nassen Haare zurück und küsste sie.
Mit einem Ruck trat sie zurück und legte die Hand auf den Mund, als wolle sie ihn schützen.
»Das geht nicht. Wir können nicht«, sagte sie.
»Warum nicht?«
Sie kreuzte wieder die Arme, steckte die Hände in die Ärmel, als wäre ihr kalt, und schaute dann schweigend zur Seite.
»Vertraust du mir nicht, Corinne? Ich vertraue dir. Hast du gehört. Ich vertraue dir . Du bist die Einzige, der ich vertraue. Und ich bin der Einzige, dem du vertrauen kannst.«
Sie schaute an die Wand, schüttelte den Kopf und biss die Zähne zusammen wie ein störrisches Kind.
Daniel schluckte und fuhr fort:
»Ich weiß nicht, was du durchgemacht hast, was du getan hast oder wer du warst. Aber jetzt sind wir hier, du und ich. Was geschehen ist, gehört der Vergangenheit an, es ist mir gleichgültig. Ich liebe dich so, wie du bist.«
»O Himmel«, schniefte sie. »Mist.« Sie fuhr sich ärgerlich mit der Hand über die Augen und sagte: »Ich liebe dich auch. Seit unserem Picknick auf dem Aussätzigenfriedhof.«
»Dann ist das vielleicht die einzige Liebe, die es in diesem Tal gibt«, sagte er ernsthaft. »Hast du darüber nachgedacht?«
Sie schien darüber nachzudenken, was er gesagt hatte.
»Du hast vermutlich recht.«
Er kam mit seinem Gesicht so nah an ihres, dass ihre Nasen sich berührten, und küsste sie noch einmal. Dieses Mal entzog sie sich nicht. Sie schmeckten einander, erst neugierig und vorsichtig, wie bei einem Nahrungsmittel, das sie noch nie gegessen hatten, und dann mit immer größerem Eifer. Er trat einen Schritt zurück und löste den Gürtel ihres Bademantels, dabei schaute er ihr ins Gesicht, bereit, aufzuhören, wenn sie ihm ein Zeichen gab. Aber sie schaute ihn nur an, lächelnd und vertrauensvoll, er öffnete den Bademantel und streichelte langsam mit zwei Fingern über ihre mädchenhaften kleinen Brüste. Sie schloss die Augen und hielt still, ihre Brustwarzen waren steif. Dann öffnete sie die Augen. Sie glitzerten gefährlich und stechend.
»Das ist nicht möglich«, flüsterte sie. »Das sollte nicht geschehen.«
43 In den folgenden Wochen liebten sie sich, wann immer es ging. In Corinnes Wohnung nach dem Training. In Daniels Hütte. Einmal im Freien unter einer Tanne und mehrmals in einer verlassenen Scheune. Das Wissen, dass sie von Feinden umgeben
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