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Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
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konnte danach nicht mehr schwanger werden. Dann war sie besessen von Säuglingen. Fand Arbeit in einer Kinderklinik. Machte Überstunden. Strickte Decken und Kleider für die Babys. War immer im Kinderzimmer, machte nie Pausen. Als die Kinder starben wie die Fliegen, wurde ermittelt. Neun Babys hat sie geschafft, ehe sie festgenommen wurde.«
    Daniel schluckte. Er musste an das denken, was Corinne gesagt hatte. Dass ihr am allermeisten Kinder fehlten.
    »Aber was soll's«, sagte Samantha und zuckte mit den Schultern. »Was schreibt Pater Dennis immer in seinen Mitteilungen? Wir sollen uns nicht zu Richtern aufschwingen . Genau. Du wirst doch nicht richten wollen? Ich auch nicht. Aber ich würde kein Bier trinken, das sie serviert. Das ist kein Urteil. Das ist nur Selbsterhaltungstrieb.«
    Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, schnipste die Kippe zwischen die Büsche und glitt über die Wiese davon.

 
    42  Der Wind war überraschend lau. Vom Krankengebäude her war ein leises, undefinierbares Metallklappern zu hören, und ganz entfernt erkannte er das Motorengeräusch des Patrouillenwagens auf seiner ewig kreisenden Fahrt durch das Tal. Ansonsten war es still.
    Marko zeigte keine Gemütsregung, als Daniel nach der Nachtpatrouille die Hütte verließ. Er lehnte an seiner Hüttenwand und hob die Hand zu einem stummen, schlaffen Gruß. Daniel grüßte zurück und ging dann rasch auf dem Pfad den Hang hinunter.
    Er ging durch das kleine Tannenwäldchen ins Dorf und dachte, dass das, was er nun tat, extrem gefährlich, völlig unnötig und ihm überhaupt nicht ähnlich war. Er könnte bis morgen warten. Er brauchte nicht sofort mit Corinne zu reden.
    Aber seine Sehnsucht nach Gewissheit – unmittelbarer Gewissheit – war stärker als die Angst. Nur einmal in seinem bisherigen Leben hatte er sich so sehr nach der Wahrheit gesehnt: Als er Emma, seine damalige Frau, verdächtigte, ihm untreu zu sein, war er nicht zur Arbeit gegangen und hatte stattdessen einen hektischen Nachmittag damit zugebracht, erst all ihre Schreibtischschubladen und Taschen zu durchsuchen, um ihr dann bis zu dem Ort zu folgen, wo sie sich mit dem Liebhaber traf. Er erinnerte sich, wie irrational und schamlos sein Handeln war, an die fiebrige Erregung und vor allem an die Eile .
    Er lief durch die schmalen, spärlich beleuchteten Gassen und die Treppe hinauf zu Corinnes Dachwohnung.
    »Ich bin's, Daniel«, rief er, um sie nicht mit seinem Klopfen zu erschrecken.
    Sie öffnete. In ihrem Gesicht waren feuchte Spuren zu sehen, als hätte sie geweint. Dann erkannte er, dass es
Schweiß war, die Falte auf ihrer Stirn zeigte, dass sie sich über die Unterbrechung ärgerte. Sie trug Shorts und ein Top, aus den Lautsprechern kam Salsamusik, die Boxhandschuhe hatte sie unter den Arm geklemmt.
    »Was ist los? Ist etwas passiert?«, fragte sie.
    »Nein. Ich will nur reden.«
    »Jetzt?«
    »Jetzt.«
    Sie ließ ihn herein.
    »Kannst du zehn Minuten warten?«
    Er nickte und setzte sich aufs Plüschsofa. Corinne trank Wasser aus dem Hahn, zog die Boxhandschuhe wieder an und setzte ihr Training fort. An der Wand hing auf einem Bügel das Hirtenmädchenkleid, sauber und frisch gebügelt.
    Daniel schaute ihr zu, wie sie den Sandsack attackierte. Sie schnaufte aggressiv, als hätte sie einen echten Gegner. Er konnte nicht genau erkennen, ob ihr Schweiß oder Tränen über die Wangen liefen oder vielleicht beides. Sie stand im Lichtkegel eines Spotlights, das an der Decke befestigt war. Der Raum war ansonsten dunkel, nur die Lichterketten mit ihren kleinen roten, grünen und blauen Lämpchen leuchteten.
    Daniel kam sich vor, als wäre er als Letzter in einem Festsaal übrig geblieben, das eigentliche Fest war vorbei, und gleich würde etwas anderes beginnen. Das Nachfest für ein paar Auserwählte.
    Sein Herz schlug noch immer von seinem schnellen Gang und der merkwürdigen, berauschenden Unruhe. Wieder musste er an Emma denken und an die letzte verzweifelte Zeit ihrer Ehe. Er hatte die Wahrheit aus ihr herausgepresst wie aus einer Zahnpastatube, und wie sehr er sich auch bemüht hatte, es gab immer noch einen kleinen Rest, an den er nicht herankam. Er hatte sie gejagt,
auf frischer Tat ertappt, sie konfrontiert. Die erregte, schmerzhafte Gewissheit. Und die Frustration, nie alles zu erfahren.
    Auf der Spüle stand eine halbvolle Flasche Wein. Er zog den Korken heraus, schenkte sich, ohne zu fragen, ein Glas ein, setzte sich wieder aufs Sofa und trank. Sein

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