Himmlische Juwelen
Fürsten zur Rückkehr in
den Schoß der Heiligen Mutter Kirche zu bewegen. Sie sah vom Computer auf und
ließ den Blick über die Fassade von Santa Maria della Fava schweifen. Plötzlich
ging ihr eine Arie aus Vivaldis Juditha Triumphans durch den Kopf. Wie ging das noch? ›Transit aetas / Volant anni / Nostri damni
/ Causa sumus.‹Die Musikbegleitung wunderbar
schlicht mit Mandoline und Violin-Pizzikato, dazu warnend die Solostimme: Die
Zeit vergeht, die Jahre verfliegen, und wir sind selbst unser Untergang. Konnte
man den Kirchenführern eine bessere Botschaft mit auf den Weg geben? Wir haben
uns unsere leeren Kirchen selbst zuzuschreiben.
»Möchten Sie noch eine halbe Stunde, Signora?«, rief der junge
Tamile an der Kasse. »In fünf Minuten läuft die Zeit ab, aber für zwei Euro
können Sie dreißig Minuten weitermachen.«
»Nein, schon gut. Aber danke für den Hinweis«, sagte sie und
widerstand dem Drang, die Arie auf Youtube zu suchen. 1709 ging Steffani nach
Hannover zurück, und von Musik war nun nicht mehr die Rede, nur noch von Reisen
und diplomatischen Missionen. Ein Leben ohne Musik. Ist Genie ein Fluch?,
fragte sie sich. Gibt es einen Punkt, an dem ein schöpferischer Geist sich
erschöpft hat? Plötzlich wurde der Bildschirm leer, und Steffani verschwand
mitsamt seinen Kompositionen, der Kirche, der er gedient hatte, und seinem
Streben, dieser Kirche wieder zu ihrer früheren Macht zu verhelfen. Sie nahm
ihre Tasche, dankte dem [97] jungen Kassierer und machte sich auf den Weg zur
Bibliothek.
Caterina brauchte dorthin keine zehn Minuten; kam man zwischen den
Karyatiden hindurch in die Vorhalle der Marciana, so kam man vom
Menschenauflauf auf dem Markusplatz in die tiefe Stille, die die Welt der Ideen
und der Bücher schenkt. Sie stand eine Weile da, wie ein Taucher, der erst
einmal dekomprimieren muss. Dann nannte sie dem Wachmann Ezios Namen, woraufhin
er sie lächelnd durch einen offenbar ausgeschalteten Metalldetektor ins Foyer
der Bibliothek winkte.
Ein Aufseher musste sie gemeldet haben, denn Ezio kam ihr am oberen
Ende der Treppe mit ausgestreckten Armen entgegen. Er hatte Augenfältchen und
wirkte dünner und kleiner als vor zehn Jahren, als sie ihn das letzte Mal
gesehen hatte. Aber die Unbeschwertheit und das Lächeln waren noch wie früher.
Er umarmte sie fest, hielt sie dann von sich weg, küsste sie auf beide Wangen,
und dann erzählten sie einander all die schönen Neuigkeiten, die alte Freunde bei
einem Wiedersehen nach Jahren austauschen. Allen ihren Schwestern gehe es gut,
seine Kinder wüchsen heran, und was könne er für sie tun?
Sie erklärte, sie müsse sich über einen Barockkomponisten kundig
machen für ein Forschungsprojekt der Stiftung, die er immerhin dem Namen nach
kannte. Er fragte nicht weiter nach, sagte bereitwillig, sie könne das Magazin
so lange benutzen, wie sie wolle, entschuldigte sich und ging ihr eine
Benutzerkarte für Gastdozenten besorgen.
»Halt, nein«, sagte er und machte auf dem Absatz kehrt. »Vorher
bringe ich dich noch ins Magazin. Damit du dich [98] schon mal umsehen kannst.«
Als sie protestierte, wollte er nichts davon hören: »Wir sind befreundet, also
vergiss die Vorschriften. Sobald du die Karte hast, kommst du sowieso fast
überall rein.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, bog er rechter Hand in die lange
Galerie, die sie noch aus Studienzeiten kannte. Der Marmorboden hätte zwei
Heeren von Giganten als Schachbrett dienen können: Auf den weit mehr als
vierundsechzig Quadraten hätte je ein Riese Platz gehabt. In den Glasvitrinen
waren mittelalterliche Handschriften ausgestellt, aber sie eilten so schnell
daran vorbei, dass Caterina nur die Zeilenreihen und auf manchen Blättern die
illuminierten Großbuchstaben sah. Die mächtigen Globen erkannte sie wieder und
das bis zum letzten Quadratzentimeter ausgeschmückte Deckengewölbe. Warum sind
wir Venezianer nur so maßlos?, fragte sie sich. Warum dieses Übermaß an Pracht
und Prunk? Sie sah aus den Fenstern und hatte den flüchtigen Eindruck, dass die
Piazza an ihr vorbeiglitt und sie selbst still stand.
Caterina folgte Ezio durch die Säle wie einem zweiten Theseus, der
losstürmte, den Minotaurus zu erschlagen, und dachte, auch sie hätte jetzt
besser einen Faden dabei. Links und rechts und wieder links, bis sie keine
Ahnung mehr hatte, wo sie waren. Die Räume gingen hier alle nach innen, so dass
sie nicht nach draußen sehen und sich an der Basilika oder am bacino orientieren
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