Himmlische Juwelen
Verlangen, sich umzudrehen, ging aber weiter, bis sie aus der calle herauskam und die nächste Brücke erreichte.
Schon war sie auf dem Campo Santa Marina und hatte mehrere Möglichkeiten:
Entweder sie ging rechts, sparte ein paar Minuten, musste aber durch die Calle
dei Miracoli, die eng und nur wenig belebt war, oder sie hielt geradeaus auf
San Giovanni Crisostomo zu, um im dichten Fußgängergewühl der Strada Nuova nach
Hause zu gelangen. Sie ging weiter geradeaus.
[155] 16
Beim Essen erwähnte sie den Mann mit keinem Wort, da sie
weder ihre Eltern noch sich selbst beunruhigen wollte. Er hatte sie nicht
bedroht, hatte sie nicht einmal angesprochen, und doch hatte er sie aus der
Fassung gebracht und – gestand sie sich ein, während sie einer Geschichte ihrer
Mutter zu folgen versuchte – in Angst und Schrecken versetzt. Die Stadt war
eine sichere Insel in einer Welt, die offenbar immer mehr aus den Fugen geriet:
Wenn man die Zeitung las, schien es, als sei eine Seuche im Anzug. Sie
konzentrierte sich wieder auf die Geschichte ihrer Mutter und das Essen.
Selbstgemachte Polenta, die ihr Vater regelmäßig von einem alten Freund
geschickt bekam, der im Friaul noch Mais anbaute. Kaninchen aus Bisiol, wo ihre
Mutter sie seit zwanzig Jahren kaufte. Artischocken aus Sant’Erasmo: Ihre
Mutter war vor kurzem einer Genossenschaft beigetreten, die zweimal wöchentlich
einen Korb Gemüse und Obst anlieferte. Auf den Inhalt des Korbs hatte der
Käufer keinen Einfluss: Es kam, was die Jahreszeit gerade hergab, alles
biologisch angebaut.
Ihre Mutter hatte sich beklagt, in ihrem ganzen Leben habe sie noch
nie so viele Äpfel gegessen, doch als Caterina nun einen davon kostete, in
Rotwein gekocht und mit Schlagsahne bedeckt, hätte sie ihre Mutter am liebsten
für weitere zwei Monate auf Äpfel abonniert. Sie sprachen über dies und das:
die Arbeit ihres Vaters, die Freundinnen ihrer Mutter, die Ehen ihrer
Schwestern, über die Nichten und [156] Neffen. Caterina fragte sich, ob sie,
sollte sie jemals ein Vermögen besitzen und selbst weder Mann noch Kinder
haben, es gern Nichten und Neffen hinterlassen würde. Sie waren alle noch
Kinder: Wer wusste schon, wozu sie sich einmal auswachsen würden?
Während sie mit halbem Ohr ihren Eltern zuhörte, dachte sie an
Steffani. Er war den größten Teil seines Lebens in Deutschland tätig gewesen
und nur gelegentlich und meist nur für kürzere Zeit nach Italien zurückgekehrt.
Wie oft mochte er seine Verwandten und deren Kinder gesehen haben? Wie vertraut
war er überhaupt mit ihnen, hatte er sie in die Luft geworfen, mit ihnen
gespielt und ihnen Lieder vorgesungen? Und erst diese Cousins, die von den
Kindeskindern von Steffanis Cousins abstammten: Mit welchem Recht beanspruchten
die seine schriftlichen und sonstigen Hinterlassenschaften oder gar einen
»Schatz«? Niemand hatte ihr das auch nur mit einem Wort erklärt.
Bisher hatte sie einen einzigen Hinweis auf Steffanis Nachlass
gefunden; demnach waren nach Auszahlung seiner Gläubiger »2029 Florin, einige
Papiere, Reliquien, Schaumünzen und Notenblätter« übriggeblieben. Dieses »und
Notenblätter« traf sie mit voller Wucht. Abgesehen davon hatte der Mann
vierundsiebzig Jahre gelebt und nichts hinterlassen als einige Papiere,
Reliquien und einiges Geld. Also einen Schatz?
»Woher wissen wir eigentlich, dass dein Urgroßvater alles im Casinò
verspielt hat?«, fragte sie unvermittelt ihren Vater. Die Eltern starrten
Caterina entgeistert an, auch deshalb, weil sie ihnen so offenkundig nicht
zugehört hatte.
Ihr Vater fuhr sich mit beiden Händen durch sein noch [157] dichtes
Haar, wie immer, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte. Ihre Mutter tat ihnen,
wie immer, wenn etwas anders lief als geplant, noch mehr Essen auf die Teller.
Alle in der Familie, ausgenommen ihre Mutter und Cinzia, aßen wie die Wölfe,
ohne ein Gramm zuzunehmen. »Ich brauche nur eine Karotte zu sehen, und schon
bin ich ein Kilo schwerer«, war ein Lieblingsspruch ihrer Mutter.
»Das kann ich nicht sagen«, erklärte ihr Vater, was sich nicht auf
die von seiner Frau so häufig zitierte Karotte bezog, sondern auf Caterinas
Frage. »Es ist eine alte Familiengeschichte. Die haben wir schon als Kinder
gehört, Giustino, Rinaldo und ich.«
»Hat mal jemand nachzuprüfen versucht, ob die Geschichte stimmt?«,
fragte Caterina.
Ihre Mutter sah sie erschrocken an, aber ihr Vater antwortete
lächelnd: »Nein, auf die Idee sind wir nie
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