Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Sie überhaupt vor, in die Messe zu gehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann kommen Sie doch einfach mit uns mit.«
Wieder grinste er. »Und wohin gehen wir, Mademoiselle Rocher?«
»Als Erstes stellen wir Blumen aufs Grab einer alten Dame.«
»Und dann?«
»Das werden Sie schon sehen«, sagte ich.
9
Sonntag, 15. August
Ich sollte mich wohl erklären. Eigentlich dachte ich, dass ich darum herumkäme. Aber wenn sie in Lansquenet bleibt – und alles weist darauf hin, dass sie das tut –, dann erfährt sie es sowieso. Der Tratsch hier kennt keine Grenzen. Aus irgendeinem mir unverständlichen Grund scheint sie zu glauben, dass sie und ich Freunde sein könnten. Also sage ich ihr am besten gleich die Wahrheit, ehe sie sich zu sehr an diesen Gedanken gewöhnt.
Das dachte ich, als ich ihr zum Friedhof folgte. Unterwegs blieben wir alle paar Minuten stehen, und die Kinder pflückten Blumen am Straßenrand. Hauptsächlich Unkraut: Löwenzahn, Jakobskraut, Gänseblümchen, Mohn, eine einzelne Anemone von der Böschung, aus einem Garten eine Handvoll Rosmarin, dessen Schösslinge durch eine Bruchsteinmauer wuchsen.
Selbstverständlich mag Vianne Rocher jede Art von Unkraut. Die Kinder – vor allem die Kleine – widmeten sich dem Blumenpflücken mit großer Hingabe, und als wir beim Friedhof ankamen, hatte das Mädchen einen ganzen Armvoll Blumen und Kräuter, zusammengehalten mit Winde und wilden Erdbeeren.
»Wie finden Sie die?«
»Sie sind … schön bunt.«
Vianne lachte. »Sie meinen unpassend.«
Unordentlich, bunt, unpassend, in jedem Sinn des Wortes schräg und daneben – und doch seltsam attraktiv: die perfekte Beschreibung von Vianne Rocher, dachte ich, sagte es aber nicht laut. Meine Redegabe – falls dieser Begriff überhaupt angemessen ist – beschränkt sich auf das Papier.
Stattdessen sagte ich: »Armande wäre entzückt.«
»Ja«, sagte sie. »Das glaube ich auch.«
Armande Voizin liegt in einem Familiengrab, mit ihren Eltern und Großeltern und dem Ehemann, der vor vierzig Jahren gestorben ist. Am unteren Ende des Grabes steht eine schwarze Marmorurne, die sie nicht ausstehen konnte, und außerdem eine Art Trog, in den sie oft heimlich Petersilie, Karotten, Kartoffeln und anderes Gemüse pflanzte, aus Protest gegen die üblichen Formen der Trauer.
Es ist typisch für Armande, dass sie ihre Freundin hierherbestellt hat, um ihr Unkraut zu bringen. Vianne Rocher hatte mir ausführlich von dem Brief erzählt, den Luc Clairmont ihr geschickt hat und in dem sich eine Nachricht von Armande Voizin befand. Und wieder muss ich sagen: Es ist typisch, dass sich Armande einmischt – von jenseits des Grabes. Sie will meinen inneren Frieden stören, indem sie mich an das erinnert, was früher war. Sie sagt, im Paradies gibt es Pralinen. Ein frevelhafter, unangemessener Gedanke, und doch, bei Gott, hofft ein Teil von mir insgeheim, dass sie recht hat.
Die Kinder saßen neben dem Marmortrog und warteten. In diesem Trog wachsen jetzt anständige Blumen, eine säuberliche Reihe von Tagetes patula. Man ahnt hier die Hand von Caroline Clairmont. Sie ist Armandes Tochter – jedenfalls biologisch. Ich entdeckte ein paar feine Blättchen zwischen den Tagetes: Unkraut. Als ich mich vorbeugte, um sie herauszuzupfen, merkte ich, dass es das Grün einer kleinen Karotte war, das da aus dem Boden lugte. Ich lächelte in mich hinein und ließ das Kraut in Ruhe. Armande hätte sich darüber gefreut.
Als Vianne Rocher ihren Strauß versorgt hatte, erhob sie sich.
»Vielleicht können Sie mir jetzt endlich erzählen, was hier los ist«, sagte sie.
Ich seufzte. »Ja, selbstverständlich, Mademoiselle Rocher.«
Ich ging voran nach Les Marauds.
10
Sonntag, 15. August
Um mich richtig zu verstehen, sollte sie selbst sehen, wovon ich sprach. Les Marauds, das ist der Slum von Lansquenet, falls man bei einem Dorf von gerade mal vierhundert Seelen überhaupt von so einem städtischen Phänomen reden kann. Früher waren hier die Gerbereien, die Lansquenets wichtigste Einkommensquelle bildeten, die Häuser am Flussufer hatten alle irgendwie damit zu tun.
Eine Gerberei riecht übel und macht eine Menge Dreck. Schon allein deswegen blieb Les Marauds von Lansquenet immer abgetrennt, dort herrschte eine Atmosphäre aus Gestank, Schmutz und Armut. Aber das ist jetzt hundert Jahre her. Inzwischen wurden die Gerbereien, genau wie die Fachwerkhäuser, größtenteils in kleine Läden und billigen Wohnraum umgebaut. Der Fluss
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