Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
hat sich erholt, und dort, wo früher die Frauen auf einer Reihe flacher Steine, die durch Jahrzehnte zermürbender Arbeit ganz ausgehöhlt sind, die Felle schrubbten, spielen und planschen jetzt die Kinder.
Genau da legen die Flussratten (die politische Korrektheit verbietet uns, sie »Zigeuner« zu nennen) gern mit ihren Booten an. Sie entzünden am Ufer ihre Feuer, backen in gusseisernen Pfannen ihre Pfannkuchen, spielen Gitarre, singen und tanzen, und außerdem verkaufen sie unseren Kindern billigen Plunder und tätowieren ihnen die Arme mit Henna, sehr zum Verdruss ihrer Eltern und zur Empörung von Joline Drou, die unsere Dorfschule leitet.
Jedenfalls war das früher so. Jetzt halten sich die Kinder fern von Les Marauds, wie auch fast alle Dorfbewohner. Selbst die Flussratten kommen nicht mehr – seit Roux vor vier Jahren weggegangen ist, habe ich hier kein Hausboot mehr gesehen. In Marauds herrscht ein völlig anderes Klima, es riecht nach Gewürzen und Rauch, und es klingt dort wie in einem fremden Land.
Man darf mich nicht falsch verstehen. Ich habe nichts gegen Ausländer. Manche Leute sind da anders eingestellt, aber zu denen gehöre ich nicht. Ich habe die ersten paar Einwandererfamilien gleich begrüßt, als sie von Agen hierhergezogen sind, die Tunesier, Algerier, Marokkaner, die man heutzutage alle unter dem Sammelbegriff Nordafrikaner oder Maghrebiner zusammenfasst. Sie wussten selbst, dass in einem Dorf wie unserem, einem Dorf, in dem die Leute nach eingefahrenen Mustern leben und mit den großstädtischen Entwicklungen nicht viel am Hut haben, die Leute höchstwahrscheinlich mit einer gewissen Abwehr auf eine Bevölkerungsgruppe reagieren würden, die so ganz anders ist als sie selbst.
Die Ersten kamen aus Marseille oder Toulouse, aus den Vorstädten, in denen die Kriminalität um sich griff. Die Menschen suchten Zuflucht in friedlicheren Gegenden. Mit ihren Familien zogen sie nach Bordeaux, Agen, Nérac und von dort weiter nach Les Marauds, das zu einem »Gebiet mit Entwicklungsmöglichkeiten« erklärt worden war und wo Georges Clairmont, unser lokaler Bauunternehmer, die neuen Mitbürger hocherfreut in Empfang nahm.
Das ist fast acht Jahre her. Vianne Rocher war schon weitergezogen. Roux lebte noch hier und arbeitete an dem Schiffsrumpf, der einmal sein Hausboot werden sollte. Er wohnte im Café des Maurauds und zahlte für seine Unterkunft, indem er Gelegenheitsjobs annahm – hauptsächlich für Georges Clairmont, der einen Blick für gute Zimmerleute hatte und ihm nur zu gern weniger als den gesetzlichen Mindestlohn auszahlte, denn Roux beschwerte sich nie, nahm Bargeld und arbeitete für alle möglichen Leute.
Les Marauds war damals ganz anders als heute. Die Richtlinien für Gesundheit und Sicherheit hatten für den Stadtrat noch keinen so hohen Stellenwert, und die heruntergekommenen Gebäude ließen sich schnell und kostengünstig in Wohnhäuser und Läden verwandeln. Es gab schon ein Textilgeschäft, in einem anderen Laden bekam man Mangos, Linsen und Süßkartoffeln. Und natürlich gab es auch ein Café, ohne Alkoholausschank, versteht sich, dafür konnte man Pfefferminztee trinken und gläserne Wasserpfeifen mit kif rauchen, dieser Mischung aus Tabak und Marihuana, die in Marokko so verbreitet ist. Jede Woche war Markt, auf dem man eigenartige exotische Obst- und Gemüsesorten kaufen konnte, die aus den Hafenanlagen von Marseille angekarrt wurden. Und die kleine Bäckerei verkaufte Fladenbrot und Pfannkuchen, süße Milchbrötchen, Honiggebäck und auch briouats mit Mandelfüllung.
Zu der Zeit bestand unsere kleine maghrebinische Gemeinschaft nur aus drei oder vier Familien, die alle in einer Straße wohnten. Manche Dorfbewohner (die sich in Geographie nicht besonders gut auskannten) nannten diese Straße nur Le Boulevard P’tit Bagdad. Kein einziger unserer neuen Mitbürger war je in Bagdad gewesen, die meisten lebten schon in der zweiten oder dritten Generation in Frankreich, wohin ihre Eltern oder Großeltern auf der Suche nach einem besseren Leben gekommen waren. Sie kleideten sich ganz unterschiedlich und sehr bunt, manche liefen in djellabas und Kaftanen herum, typisch für Marokko, andere in einem Burnus mit Kapuze, wie es vor allem bei Arabern und Berbern Tradition ist. Aber auch moderne europäische Kleidung wurde getragen, meistens allerdings mit einer Kopfbedeckung – einer Gebetsmütze, einer türkischen Kappe oder auch einem Fez, je nachdem, woher die Leute
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