Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
auch noch das Hausboot anzünden?«
Jetzt wusste ich mit Sicherheit, dass ich nicht Sonia vor mir hatte. Sonia redet sowieso anders, leiser und eher nasal. Ich sagte: »Sprechen Sie mit Sonia Bencharki. Sie weiß, dass ich mit alldem nichts zu tun habe.«
»Mit Sonia soll ich sprechen? Nicht mit Alyssa?«
»Sie müssen sie nur fragen. Sagen Sie ihr, warum ich hier festgehalten werde. Sie kann Ihnen sagen, was wirklich passiert ist.«
Die Frau schaute mich lange an. »Ja, vielleicht mache ich das.«
Ich habe natürlich keine Ahnung, ob Sonia dieser Frau tatsächlich die Wahrheit sagt. Aber was bleibt mir sonst noch übrig? Immerhin habe ich dafür gesorgt, dass sie ins Zweifeln kommt.
Ich weiß ja selbst nicht, warum mir das hier widerfährt. Ich habe immer meine Pflicht getan. Es liegt an diesen Menschen, an diesen Maghrebinern. Sie sind doch alle miteinander verrückt. Ich habe getan, was ich kann, um ihnen zu helfen, père, und was hat es mir letzten Endes gebracht? Ich bin einem fünfjährigen Mädchen, einer verschwundenen Katze und einer schwarz verschleierten Frau ausgeliefert. Wenn ich nicht so k. o. wäre, père, fände ich das vielleicht noch irgendwie lustig. Aber ich kann nicht mehr. Ich habe kaum geschlafen, nur ein wenig auf den letzten beiden trockenen Stufen gedöst, und dieser Halbschlaf war erfüllt von so realistischen Träumen, dass sie mir nachträglich fast nicht wie Träume vorkommen. Ein paarmal bin ich hochgeschreckt, weil ich dachte, es klopfe jemand an das Gitter. Ich habe jedes Mal nachgeschaut, aber niemanden gesehen. Offenbar hat mein Gehirn mir einen Streich gespielt. Meine Kehle ist ganz trocken. Der Kopf tut mir weh. Ich habe den Pfefferminztee getrunken, essen konnte ich nicht. Ich will nur noch schlafen. Vielleicht für immer. Ich möchte zwischen frisch gewaschenen Laken liegen und meinen schmerzenden Kopf auf ein weiches Kissen betten.
Es dämmert. Der Gebetsruf. Allahu akbar. Gott ist groß. Diese Worte sind das Erste, was ein Neugeborenes hört, die ersten Worte, die in einem neuen Zuhause gesprochen werden. Allahu akbar. Gott ist groß. Und nun, in dieser halben Stunde, ehe die Sportgeräte wieder losrattern und die Glocken von Saint-Jérôme zu läuten beginnen, der Kirche, in der Père Henri vor meiner Gemeinde die Messe lesen wird …
Aber ist es meine Gemeinde? Die Vorstellung, dass Père Henri langsam, aber sicher Saint-Jérôme übernimmt, die Holzbänke durch Plastikstühle ersetzt und vielleicht noch einen Bildschirm für seine Power-Point-Präsentationen installiert, diese Vorstellung erfüllt mich mit Ekel. Aber sie erklärt nicht das entsetzlich traurige Gefühl in mir, dass ich etwas verloren habe. Sie erklärt nicht mein Gefühl der Isolation, die Sehnsucht nach einem sicheren Ort in der Welt. Selbst bevor all das geschehen ist, mon père, war ich nie wirklich einer von ihnen. Ich habe nie richtig dazugehört, obwohl ich hier geboren wurde. Ich war abgeschnitten von den anderen, und zwar nicht nur wegen meiner Berufung. Wenn ich jetzt hier so im Wasser stehe, scheint mir das total offensichtlich zu sein. Und in einem Punkt hat Karim recht: Niemand wird mich vermissen. Ich habe die Herzen der Menschen nie so richtig berührt, ich habe nur ihr Gewissen aufgestachelt.
Woran liegt das, père? Vianne Rocher würde vielleicht sagen, es liegt daran, dass ich keine Nähe herstelle. Ich halte immer Distanz. Ist das so falsch? Ein Priester kann es sich nicht leisten, seinen Gemeindemitgliedern zu nahe zu kommen. Die Autorität muss gewahrt bleiben. Und doch – wer bin ich ohne meine Soutane? Ein Einsiedlerkrebs ohne Schale, allen Angreifern hilflos ausgeliefert?
4
Samstag, 28. August, 9:40 Uhr
Es war kurz nach neun, als Roux mit Croissants und pains au chocolat zurückkam. Wir frühstückten auf Deck, Anouk machte Kaffee in der Kombüse, und Rosette spielte am Ufer mit Bam.
»Ich wäre schon früher hier gewesen«, sagte er. »Aber ich bin dauernd Leuten begegnet, die mit mir reden wollten.«
Père Henri liest heute die Messe. Der Platz wird voller Menschen sein. Samstags und sonntags macht Poitou am meisten Umsatz. Kunstvolle Torten fürs Mittagessen, Obstkuchen, Mandelpudding, das pain viennois, das er nur am Wochenende und zu besonderen Anlässen bäckt. Die Gläubigen gehen für gewöhnlich erst in die Kirche und anschließend in die Bäckerei. Der Geist muss gefüttert werden, und zwar nicht nur mit Bibelworten.
»Nichts Neues von Reynaud?«, fragte
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