Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
leuchtete. Nur am westlichen Horizont war noch ein grellgelber Streifen zu sehen.
Und dann ging es los. Ich hatte es gewusst. Die ferne Melodie des Gebets. Fern, aber nicht zu überhören, drang der Ruf aus der Kehle des alten Backsteinturms: Allahu akbar – Gott ist groß.
Ja, natürlich weiß ich, was das bedeutet. Denken Sie, weil ich Katholik bin, habe ich keine Ahnung von anderen Religionen? Mir war klar, dass gleich überall Männer auftauchen und zur Moschee laufen würden. Die Frauen blieben auch jetzt im Haus und bereiteten alles für den Abend vor. Und sobald der Mond zu sehen wäre, würde es ein Festessen geben, traditionelle Speisen aus der Heimat, die zu diesem Anlass zubereitet werden, Obst und Nüsse und getrocknete Feigen, dazu frittiertes Gebäck.
Dies war der fünfte Tag des Ramadan, des islamischen Fastenmonats. Es war ein langer Tag. Nichts zu essen, das geht vielleicht noch, aber an einem Tag wie heute kein Wasser zu trinken, wenn der Wind gnadenlos über das Land fegt und alles austrocknet …
Eine Frau, gefolgt von einem Kind, überquerte vor uns die Straße. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Aber ihre Hände in den schwarzen Handschuhen verrieten sie. Es war die Frau in Schwarz, das wusste ich, die Frau aus der Chocolaterie. Ich hatte sie nicht mehr gesehen, seit das Haus ausgebrannt war, und war froh, dass ich endlich die Möglichkeit hatte, mich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
»Madame«, sagte ich. »Ich hoffe, es geht Ihnen gut.«
Sie schaute mich nicht einmal an. Der Gesichtsschleier, den sie immer trägt, lässt nur einen schmalen Briefkastenschlitz frei, durch den ich meine Beileidsbekundungen hätte vermitteln können. Doch auch die Kleine schien mich nicht zu hören. Sie zurrte ihr Kopftuch ein wenig fester, als suchte sie zusätzlichen Schutz.
»Wenn Sie Hilfe brauchen …«, fuhr ich fort, aber die Frau war schon in eine Nebenstraße eingebogen. Inzwischen hatte der Muezzin seinen Sprechgesang beendet, und die Gläubigen eilten zur Moschee.
Einen dieser Gläubigen erkannte ich. Er stand gleich neben dem Eingang der Moschee: Saïd Mahjoubi, der älteste Sohn des alten Mahjoubi und Besitzer des Fitness-Studios. Ein Mann zwischen vierzig und fünfzig, bärtig, in einer Robe, die Gebetsmütze auf dem Kopf. Er lächelt fast nie. Auch jetzt nicht. Ich hob zur Begrüßung die Hand.
Einen Moment lang schaute er mich nur an. Dann kam er auf uns zu, mit steifen, nervösen Schritten, wie ein kampfbereiter Hahn.
»Was wollen Sie hier?«, fragte er.
Ich war überrascht. »Ich wohne hier.«
»Sie wohnen auf der anderen Seite des Flusses«, entgegnete Saïd. »Und wenn Sie klug sind, dann bleiben Sie auch da drüben.« Ein paar Männer waren stehen geblieben, als sie Saïds erhobene Stimme hörten. Sie wechselten einige Worte auf Arabisch, ein rascher Austausch von Silben, die für mich wie hektisches Schreibmaschinengeklapper klangen. Ich konnte kein einziges verständliches Wort herausfiltern.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte ich zu Saïd.
Saïd musterte mich mit finsterer Miene und sagte etwas auf Arabisch. Die Männer um ihn herum signalisierten Zustimmung. Er kam einen Schritt auf mich zu. Ich konnte seine Wut förmlich riechen. Jetzt klangen die arabischen Stimmen feindselig, aggressiv. Ich war plötzlich fest davon überzeugt, dass der Mann mich gleich schlagen würde.
In dem Moment trat Vianne zu uns. Ich hatte fast vergessen, dass sie da war. Anouk verfolgte die Szene argwöhnisch, während Rosette in einer kleinen Seitengasse mit den Schatten spielte.
Ich wollte Vianne eben warnen – der Mann war so aufgebracht, dass es ihm vermutlich egal war, dass eine Frau und Kinder in der Nähe waren –, doch ihre Anwesenheit schien Saïd eher zu beruhigen. Vianne sagte kein Wort, sie fasste ihn auch nicht an, sondern machte nur ein kleines Zeichen mit den Fingern, eine Beschwichtigungsgeste, und schon wich der Mann zurück und wirkte auf einmal fast verwirrt.
Hatte er seinen Fehler eingesehen?
Oder hatte sie ihm etwas zugeflüstert?
Wenn ja, blieb es für mich unhörbar. Auf jeden Fall war die aggressionsgeladene Stimmung wie weggeblasen. Die Gefahr – hätte denn tatsächlich etwas passieren können? – war gebannt.
»Ich glaube, wir sollten lieber gehen«, sagte ich zu Vianne. »Es tut mir leid, ich hätte Sie nicht hierherbringen sollen.«
Sie lächelte. »Haben Sie mich hierhergebracht? Vergessen Sie nicht, ich bin gekommen, weil ich Armandes Haus
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