Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
gefahren, um Ware abzuholen, und komme vermutlich erst spät zurück.
Und nein, sie habe keine Nachricht hinterlassen.
Ich hatte nicht den Eindruck, als würde das Mädchen uns kennen, und sie schien auch nicht besonders interessiert zu sein. Ihre Augen konnte man vor lauter Lidschatten und Mascara kaum sehen, und die Lippen schimmerten wie kandierte Früchte. Genüsslich kaute sie einen großen Klumpen rosaroten Kaugummi.
»Ich heiße Vianne. Wie heißt du?«
Sie glotzte mich an, als hätte ich den Verstand verloren. »Marie-Ange Lucas«, knurrte sie schließlich, genauso unfreundlich wie bisher. »Ich vertrete Madame Bonnet.«
»Nett, dich kennenzulernen, Marie-Ange. Ich nehme eine citron pressé, bitte. Und für Rosette eine Orangina.«
Anouk hatte sich vorgenommen, Jeannot Drou zu suchen. Ich konnte nur hoffen, dass sie mehr Glück hatte als ich mit Joséphine. Ich trug unsere Getränke hinaus auf die Terrasse (Marie-Ange bot nicht an, sie uns zu bringen) und setzte mich unter die Akazie, den Blick auf die menschenleere Straße gerichtet, die zur Brücke nach Les Marauds führte.
Madame Bonnet? Warum hatte meine alte Freundin, die nun wieder ihren Mädchennamen trug, die Bezeichnung »Madame« beibehalten? In Lansquenet muss man seine Ehrbarkeit auf ganz besondere Art demonstrieren. Eine Frau, die Mitte dreißig ist und ein eigenes Geschäft führt, ohne den Beistand eines Mannes – so eine Frau kann keine Mademoiselle sein. Vor acht Jahren habe ich selbst diese Erfahrung gemacht. Ich war für die Leute hier immer Madame Rocher.
Rosette trank ihre Orangina aus und spielte mit ein paar Steinen, die sie auf der Straße gefunden hatte. Sie braucht nicht viel, um sich zu beschäftigen. Mit ihren Fingern machte sie ein Zeichen, und die Steine begannen geheimnisvoll zu schimmern. Dann gab sie ein leises, ungeduldiges Krächzen von sich, und die Steine fingen an, auf der Tischplatte zu tanzen.
»Lauf und spiel mit Bam«, sagte ich. »Aber bleib in der Nähe, okay?«
Ich schaute ihr nach, während sie in Richtung Brücke hüpfte. Dort konnte sie stundenlang spielen, das wusste ich, sie würde Stöckchen über die Brüstung werfen und dann zur anderen Seite der Brücke laufen, um zu sehen, wie sie unten auf dem Wasser entlanggetrieben kamen, oder sie würde einfach die Spiegelung der ziehenden Wolken beobachten. Ein Schimmer in der heißen Luft deutete auf Bams Anwesenheit hin. Ich trank meine citron pressé aus und bestellte noch eine.
Da steckte ein kleiner Junge den Kopf durch die Tür des Cafés. Er war ungefähr acht und trug ein König der Löwen-T-Shirt, das fast bis zum Saum seiner verwaschenen Shorts reichte, dazu Turnschuhe, denen man ansah, dass er mit ihnen gerade eben durch den Tannes gewatet war. Seine Haare waren von der Sonne gebleicht, die Augen leuchteten sommerblau. In der Hand hielt er ein Stück Schnur, und am Ende dieser Schnur kam ein großer zotteliger Hund zum Vorschein, der offensichtlich auch gerade im Wasser gewesen war. Junge und Hund betrachteten mich mit unverhohlener Neugier. Dann rannten beide los, die Straße zur Brücke hinunter. Der Hund bellte wie verrückt an seinem Ende der Schnur, der Junge schlitterte auf seinen schmuddeligen Turnschuhen und ließ kleine Straßenstaubwolken in die Luft aufsteigen.
Marie-Ange brachte mir meine zweite citron pressé. »Wer war das?«, fragte ich sie.
»Der Junge? Das ist Pilou. Madame Bonnets Sohn.«
»Ihr Sohn?«
Sie schaute mich irritiert an. »Ja, klar, ihr Sohn.«
»Das wusste ich gar nicht.«
Das Mädchen zuckte wieder die Achseln, diesmal um zu signalisieren, dass ihr das total egal war. Dann nahm sie die leeren Gläser und schlappte zurück zu ihrem Fernseher.
Ich schaute dem Jungen und seinem Hund nach. Die beiden planschten jetzt im seichten Wasser herum, und in der dunstigen Luft sahen sie aus wie vergoldet, samt Heiligenschein – die Haare des Jungen strahlten im Sonnenlicht, und sogar den zerzausten Hund schien eine Matrix aus Diamanten zu umgeben.
Fasziniert studierte Rosette den Jungen und seinen Hund. Sie ist ein kontaktfreudiges kleines Wesen, aber in Paris bleibt sie meistens für sich; die anderen Kinder spielen nicht mit ihr. Zum einen weil sie nicht redet, zum anderen weil sie ihnen irgendwie Angst macht. Ich hörte, wie Pilou ihr von unter der Brücke etwas zurief, und schon war sie bei ihm und dem Hund, um mit den beiden im Wasser herumzuhopsen. An dieser Stelle ist der Fluss ganz flach, das Ufer besteht aus
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