Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)

Titel: Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
Vom Netzwerk:
so strahlend wie das Sonnenlicht, das sich im Fluss spiegelte. »Sie sagt, er war ein Pirat, der den Fluss hinuntergefahren ist. Jetzt ist er auf hoher See, trinkt Rum aus Kokosnussschalen und sucht einen verborgenen Schatz. Ich sehe genauso aus wie er, sagt sie, und wenn ich groß bin, gehe ich weg von hier und erlebe auch tausend Abenteuer. Vielleicht treffe ich ihn dann unterwegs irgendwo.«
    Jetzt fühlte ich mich doppelt komisch. Das klang wie eine von Roux’ Geschichten. Mir war früher schon klargewesen, dass Joséphine eine Schwäche für Roux hatte. Es gab Zeiten, in denen ich mir vorstellen konnte, dass die zwei sich ineinander verlieben. Aber das Leben macht unsere schönsten Erwartungen gern zunichte, und was auch immer ich mir für uns beide für eine Zukunft ausgedacht habe, es ist völlig anders gekommen.
    Joséphine hat davon geträumt, von hier wegzukommen, und ist in Lansquenet geblieben. Ich hatte mir geschworen, nie nach Paris zurückzugehen, und in Paris habe ich mich niedergelassen. Genau wie der Wind macht das Leben sich einen Spaß daraus, uns an die Orte zu tragen, mit denen wir am wenigsten gerechnet haben, und es wechselt dauernd die Richtung: Bettler werden gekrönt, Könige stürzen, Liebe verblasst zu Gleichgültigkeit, und Todfeinde gehen Hand in Hand als Freunde ins Grab.
    Fordere das Leben nie zu einem Spiel heraus, hat meine Mutter oft zu mir gesagt. Das Leben spielt nicht fair, es ändert ständig die Regeln, stiehlt dir die Karten aus der Hand oder macht die Bilder unsichtbar.
    Plötzlich wollte ich die Tarotkarten meiner Mutter lesen. Ich hatte sie natürlich mitgebracht, weil ich sie immer und überallhin mitnehme, aber es ist lang her, dass ich das Sandelholzkästchen das letzte Mal aufgeklappt habe. Ich fürchte, dass ich die Kunst des Kartenlesens gar nicht mehr beherrsche – aber vielleicht ist es nicht das, was mir Angst macht.
    Zurück in Armandes Haus, wo man immer noch ihren Duft wahrnimmt – nach dem Lavendel, den sie zwischen die Wäsche steckte, den in Brandy eingelegten Kirschen, die aufgereiht in den Regalen ihrer kleinen Speisekammer stehen –, öffnete ich das Kästchen mit den Karten. Genau wie Armandes Haus immer noch nach Armande riecht, so duftet dieses Kästchen nach meiner Mutter, als wäre sie im Tod ganz klein zusammengeschrumpft, zur Größe eines Kartenspiels. Aber ihre Stimme ist laut und klar wie immer.
    Ich hob die Karten ab und legte sie. Draußen in Les Marauds spielte Rosette immer noch mit ihrem neuen Freund. Die Karten sind alt und abgegriffen, die Holzschnittbilder verblasst vom häufigen Gebrauch.
    Die Sieben der Schwerter: Vergeblichkeit. Die Sieben der Scheiben: Versagen. Die Königin der Kelche wirkt weit weg: der Blick einer Frau, die so oft und so bitter enttäuscht wurde, dass sie nicht mehr zu hoffen wagt. Der Ritter der Kelche, eigentlich eine dynamische Karte, hat leider einen kleinen Wasserschaden erlitten, und sein Gesicht wirkt verlebt und verbraucht. Wer ist er? Irgendwie kommt er mir bekannt vor. Aber er gibt mir keine Antwort auf meine Frage. Das heißt –
    Die Karten sind schlecht. Ich sollte sie wegpacken, ich weiß. Was habe ich überhaupt hier verloren? Ich wünsche mir schon fast, ich hätte Armandes Brief nie gelesen. Roux hätte ihn mir gar nicht geben sollen. Warum hat er ihn nicht gleich in die Seine geworfen?
    Ich checke mein Handy. Keine Antwort von Roux. Höchstwahrscheinlich hat er meine Nachrichten gar nicht angeschaut – in Bezug auf sein Handy ist er genauso unzuverlässig wie als Briefeschreiber –, aber nach dem, was ich heute erfahren habe, würde ich gern etwas von ihm hören. Eigentlich absurd, sage ich mir – ich habe noch nie jemanden gebraucht. Und doch denke ich, dass der Faden, der mich mit meinem neuen Leben verbindet, unweigerlich immer dünner und brüchiger wird, je länger ich mich in Lansquenet aufhalte.
    Klar, wir könnten heute Abend noch nach Hause fahren. Es wäre ganz einfach. Was hält mich hier? Nostalgie? Eine Erinnerung? Ein paar Karten?
    Nein, das ist es nicht. Was dann?
    Ich lege die Karten wieder in ihr Kästchen. Dabei rutscht eine heraus und fällt umgedreht auf den Boden. Eine Frau, die einen Spinnrocken hält, von dem sich eine Mondsichel abwickelt. Ihr Gesicht liegt im Schatten. Der Mond. Eine Karte, die ich immer mit mir in Verbindung gebracht habe, aber heute ist sie jemand anders. Vielleicht wegen der Mondsichel, die ganz ähnlich aussieht wie die auf der Moschee.

Weitere Kostenlose Bücher