Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Vielleicht ist es auch das schattenverhüllte Gesicht, das mich wieder zu der Frau in Schwarz führt, dieser Frau, die ich nur kurz gesehen habe und deren Schatten sich über den Fluss erstreckt bis nach Les Marauds, ein Schatten, der mich einfängt, mich nach Hause zieht.
Nach Hause. Ach, wieder dieses Wort. Aber Lansquenet ist nicht mein Zuhause. Und doch hat dieses Wort eine extrem starke Anziehungskraft. Weiß ich überhaupt, was es bedeutet? Vielleicht kann die Frau in Schwarz es mir erklären – falls ich sie finde.
Anouk ist wieder da von ihrem Tag mit Jeannot, ein fröhliches Sommerlächeln auf den Lippen und einen leichten Sonnenbrand auf dem Nasenrücken. Ich lasse sie hier bei Rosette, deren kleiner Freund samt Hund endlich nach Hause gegangen ist. Ich vermute allerdings, dass wir Pilou und Vlad in den nächsten Tagen noch öfter sehen werden. Und Jeannot bestimmt auch.
»War’s schön?«
Anouk nickt. Ihre Augen leuchten hell. Obwohl die Farben der beiden ganz anders sind, hat sie heute große Ähnlichkeit mit Rosette. Vom feuchten Wind am Fluss ringeln sich ihre Haare zu tausend kleinen Locken. Ich freue mich, dass sie hier ihren Freund wiedergefunden hat, auch wenn er der Sohn von Joline Drou ist. Ich erinnere mich gut an den kleinen Jungen mit blitzenden Augen, der am Anfang eher misstrauisch war, dann aber sehr schnell in Anouks ausgefallene Spiele einstieg. Am liebsten mochte er Schokoladenmäuse, er steckte sie immer in frisches Baguette, um pain au chocolat zu bekommen. Jeannot ist ungefähr so alt wie Anouk, vielleicht ein paar Monate älter. Seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben, ist er etwas breiter geworden, und er ist größer als seine Eltern. Allerdings wird diese Illusion der Reife aufgehoben durch seine schiefe Haltung und den fohlenhaft hüpfenden Gang, den er an den Tag legt, wenn er sich unbeobachtet wähnt. Ich freue mich, dass Jeannot etwas von dem kleinen Jungen behalten hat, der er damals war. Zu viele der Menschen, die ich kenne, haben sich verändert, manche bis zur Unkenntlichkeit.
Die Uhr von Saint-Jérôme schlägt sechs Mal. Eine günstige Uhrzeit, um die Nachbarn zu besuchen. Die Männer sind noch in der Moschee. Die Frauen bereiten das Fastenbrechen vor.
»Ich würde gern kurz weggehen. Ist das okay?«
Anouk nickt. »Ja, klar. Ich mache uns was zu essen.«
Das heißt, es wird wieder trockene Nudeln geben, nehme ich an, gekocht auf Armandes Holzherd. In der Speisekammer steht ein ganzes Glas voll, aber ich will lieber nicht daran denken, wie alt sie sind. Anouk und Rosette lieben Pasta. Ein bisschen Olivenöl und etwas frisches Basilikum aus dem Garten, schon sind die beiden zufrieden. Außerdem gibt es Pfirsiche und von Narcisse Kirschen und Pflaumen, in Brandy eingelegt, sowie einen flan aux pruneaux von seiner Frau. Dazu dann noch Galettes und Käse von Luc.
Mein Blick wandert zu dem Haus mit den grünen Fensterläden. Ich habe Maya Pfirsiche versprochen. Anouk hilft mir, ein paar zu pflücken. Wir packen sie in einen Korb, den wir vorher mit Löwenzahnblättern auslegen. Das ist etwas, was ich in den acht Jahren Paris fast vergessen habe: der Geruch von Pfirsichen am Baum, sonnig und berauschend, das bittere Aroma der Blätter, wie staubige Gehwege nach dem Regen. Für mich riecht das nach Kindheit, nach Verkaufsständen an der Straße, nach warmen Sommerabenden.
Was ist mit der Frau in Schwarz? Ich kann es eigentlich nicht wissen – aber ein Teil von mir ist fest davon überzeugt, dass sie Pfirsiche über alles mag.
Es gab eine Zeit, da habe ich bei allen Leuten gewusst, was sie am liebsten essen. Irgendwo im Innern weiß ich es immer noch, aber diese Begabung, der meine Mutter einen großen Wert beigemessen hat, war häufig ein Fluch. Wissen ist nicht immer gut. Selbst Macht ist oft alles andere als angenehm. Diese Lektion habe ich vor vier Jahren gelernt, als Zozie de l’Alba in unser Leben stürmte – wie ein Wirbelsturm in scharlachroten Schuhen. Für mich steht zu viel auf dem Spiel, um unbefangen und glücklich den Wind reiten zu können. Wer das Drehbuch des menschlichen Herzens liest, bürdet sich damit viel zu viel Verantwortung auf.
Soll ich es wirklich tun? Kann ich hier etwas bewirken? Oder wird sich die Frau in Schwarz als meine ganz persönliche schwarze piñata herausstellen, angefüllt mit Worten, die man besser nicht liest, mit Geschichten, die lieber ein Geheimnis bleiben sollten?
5
Dienstag, 17. August
Ich hatte erwartet, die
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