Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Brot und ging damit zu Armandes Haus. Ich legte alles vor die Haustür, wo Vianne Rocher es finden würde.
Die Straßen von Les Marauds waren menschenleer. Vermutlich frühstückten die Leute in den Häusern, während der letzten halben Stunde vor Sonnenaufgang. Ich sah nur ein Mädchen, bis auf das Gesicht in dunkelblaues Tuch gehüllt. Sie rannte schnell über die Hauptstraße, als ich gerade auf die Brücke zustrebte, und warf mir einen ängstlichen Blick zu. Dann machte sie kehrt und verschwand in einer Seitenstraße, gegenüber vom Fitness-Studio.
Saïds Gym. Ich kann es nicht ausstehen! Ein unsympathisches, halbverfallenes Gebäude am Ende einer unsympathischen kleinen Gasse. Immer lungern dort massenhaft junge Männer herum – nie ein weißes Gesicht darunter –, man kann das Testosteron förmlich riechen. Den kif riecht man ebenfalls. Viele junge Marokkaner rauchen das Zeug, und die Polizei greift nicht ein. Um es mit Père Henri Lemaîtres Worten auszudrücken: Wir müssen Rücksicht nehmen auf die kulturellen Unterschiede. Offenbar gehört zu dieser Rücksichtnahme auch, nicht einzuschreiten, wenn die Mädchen nicht in die Schule gehen oder man hartnäckige Gerüchte von häuslicher Gewalt in gewissen Familien hört – bisweilen wird die sogar gemeldet, aber niemand geht der Sache nach. Allem Anschein nach ist für solche heiklen Angelegenheiten der alte Mahjoubi zuständig, also brauchen wir anderen uns nicht darum zu kümmern, wir brauchen nicht einmal hinzusehen.
Die Tür des Gyms stand offen – an warmen Tagen wird es da drin wohl ganz schön heiß –, und obwohl ich nicht hinschaute, spürte ich die Feindseligkeit wie unsichtbare Granatsplitter. Dann war ich dran vorbei.
Geschafft.
Es ist mir unangenehm, dass ich mich vor dieser kleinen Gasse fürchte. Aber ich habe es mir als Buße auferlegt, jeden Tag dort vorbeizugehen, in der Hoffnung, auf diese Weise meine Feigheit zu überwinden. So ähnlich habe ich mich als Junge immer gezwungen, ganz dicht an ein Wespennest zu treten, das sich unter der Mauer hinter dem Friedhof befand. Die Wespen waren fett und widerlich, mon père, und ängstigten mich entsetzlich. Das ging weit über die Furcht vor dem Gestochenwerden hinaus. Genauso ist es mit Saïds Gym – das Kribbeln des Adrenalins, der Schweiß in den Achselhöhlen und im Genick, kaum merklich beschleunige ich meinen Schritt, mein Herz schlägt schneller und beruhigt sich erst wieder, wenn ich Buße getan habe.
Vergib mir, Vater, ich habe gesündigt.
Lächerlich. Ich habe doch nichts verbrochen!
Ich kam zur Brücke nach Lansquenet. Über die Brüstung hinweg konnte ich den alten Mahjoubi auf seiner Terrasse sitzen sehen, in einem geflochtenen Schaukelstuhl, der fast zu ihm zu gehören schien. Er las ein Buch – ohne Zweifel den Koran –, aber als er mich sah, winkte er grinsend.
Ich erwiderte den Gruß möglichst gefasst. Schließlich will ich mich nicht auf einen unwürdigen Wettstreit mit diesem Mann einlassen. Er grinste – sogar aus dieser Entfernung konnte ich seine Zähne sehen –, und dann hörte ich ein kurzes Lachen aus der halbgeöffneten Haustür. Das Gesicht eines kleinen Mädchens erschien in der Tür, gekrönt von einer gelben Schleife. Seine Enkeltochter, nehme ich an, zu Besuch aus Marseille. Als ich weiterging, wurde das Gelächter lauter.
»Versteckt die Streichhölzer! Da kommt Monsieur le Curé!«
Dann ein strenger Ruf – »Maya!« –, und das kleine Gesicht war wieder verschwunden. Stattdessen sah ich jetzt Saïd Mahjoubi mit seiner Gebetsmütze. Er starrte mich böse an. Gott möge mir verzeihen, aber ich finde den Spott des alten Mahjoubi fast noch angenehmer. Saïd musterte mich mit offener Feindseligkeit, ja als wollte er mich bedrohen. Dieser Mann hält mich für schuldig, père. Ich könnte tun und sagen, was ich wollte, er ließe sich nicht vom Gegenteil überzeugen.
Der alte Mahjoubi sagte etwas zu seinem Sohn, auf Arabisch. Saïd antwortete, ohne den Blick von mir zu nehmen.
Ich begrüßte ihn mit einem höflichen Nicken, weil ich ihm (und seinem Vater) demonstrieren will, dass ich mich nicht einschüchtern lasse. Dann eilte ich rasch über die Brücke, zurück in etwas freundlicheres Terrain.
Sehen Sie, womit ich mich herumschlagen muss, père? Früher habe ich das ganze Dorf gekannt. Die Menschen sind mit ihren Problemen zu mir gekommen, gleichgültig, ob sie in die Kirche gingen oder nicht. Jetzt ist Mohammed Mahjoubi zuständig – angespornt
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