Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
»Von jetzt an wohnt sie bei mir.«
»Aber was ist mit der Schule?«, fragte ich. »Geht sie nicht weiter?«
Die Frau sagte wieder etwas auf Arabisch zu ihrem Bruder. Ich beherrsche diese Sprache nicht, in meinen Ohren klangen die fremden Silben schroff und wütend – aber wie soll ich beurteilen, ob der Eindruck auf meiner Ignoranz beruhte oder tatsächlich zutraf? Wieder schämte ich mich irgendwie und versuchte, dieses Gefühl durch ein Lächeln auszugleichen.
»Ich kann nicht anders, ich fühle mich verantwortlich für das, was hier passiert ist«, sagte ich zu den beiden. »Ich möchte gern helfen.«
»Sie braucht Ihre Hilfe nicht«, erwiderte Karim. »Und wenn Sie jetzt bitte das Haus verlassen würden – sonst rufe ich die Polizei.«
»Wie bitte?«
»Sie haben mich genau verstanden: Sonst rufe ich die Polizei. Glauben Sie, weil Sie Priester sind, kommen Sie ungestraft davon? Jeder weiß, dass Sie das Feuer gelegt haben. Selbst Ihre eigenen Leute sagen das. Und wenn ich Sie wäre, würde ich ab jetzt auf Ihrer Seite des Flusses bleiben. Nicht dass Ihnen etwas zustößt.«
Einen Moment lang starrte ich ihn fassungslos an. »Heißt das, Sie drohen mir?«
Auf einen Schlag verflüchtigte sich das Gefühl von Schuld und Scham, und mich packte die kalte Wut. Klar und rein wie Quellwasser. Ich richtete mich auf – ich bin größer als die beiden – und ließ den ganzen Frust heraus, der sich in den letzten Jahren in mir aufgestaut hatte.
Sechs Jahre lang habe ich versucht, mit diesen Menschen auszukommen, sie dazu zu bringen, dass sie uns verstehen. Ich habe mir Vorträge vom Bischof angehört, wie man eine Gemeinde führt, ich habe Graffiti auf meiner Haustür vorgefunden und mich mit meiner eigenen Herde angelegt. Sechs Jahre mit dem alten Mahjoubi und seiner Moschee, mit verschleierten Frauen und mürrischen Männern. Sechs Jahre Hohn und Spott und unausgesprochene Verachtung.
Ich habe mir große Mühe gegeben, père. Ich habe mich mit aller Kraft bemüht, tolerant zu sein und es zu ertragen! Aber manche Dinge sind unerträglich. Die Moschee kann ich ja gerade noch aushalten – aber das Minarett? Die Kif-Raucher? Das Gym mit seiner feindseligen Atmosphäre? Die Mädchen mit dem niqab? Die muslimische Schule? Als würde unsere eigene Dorfschule ihren Töchtern etwas anderes beibringen als Unterwerfung und Angst!
Unerträglich. Unerträglich!
Ich weiß nicht mehr genau, was ich sagte. Oder wie viel ich überhaupt laut ausgesprochen habe. Aber ich kochte vor Wut, père. Wut über die Undankbarkeit und die Feindseligkeit. Aber vor allem war ich wütend darüber, dass ich die Kontrolle verloren hatte und trotz bester Absichten nun auch den letzten Einwohner von Les Marauds, der vielleicht noch an meine Unschuld geglaubt haben mochte, davon überzeugt hatte, dass niemand anders an dem Brand schuld war als ich.
8
Mittwoch, 18. August
Anouk war heute wieder mit Jeannot unterwegs, und ich machte mich mit Rosette erneut auf die Suche nach Joséphine. Wir kamen an dem Haus mit den grünen Fensterläden vorbei, aber wie der Rest von Les Marauds war es verschlossen und schien fest zu schlafen.
Wir gingen zum Ende des Boulevards und dann hinunter zum Flussufer. Es gibt einen schmalen Pfad am Tannes entlang, eine Art erhöhten Plankenweg, an dem die Fachwerkhäuser wie betrunkene Clowns auf Stelzen über dem Fluss balancieren. Jedes Haus hat eine Art Terrasse, ein Holzdeck mit Geländer, hoch über dem Wasser. Manche sind noch in Ordnung, andere mussten bereits abgesperrt werden. Einige ähneln Gärten, mit Blumentöpfen und Hängekörben und Jasmin, der über das Geländer rankt.
Auf einer dieser Terrassen saß ein alter Mann mit weißem Bart in einem Sessel und las ein Buch (ich vermute mal, es war der Koran). Er trug eine weiße djellaba und dazu, etwas unpassend, eine schwarze Baskenmütze.
Als wir vorbeikamen, blickte er hoch und hob grüßend die Hand. Ich winkte zurück und lächelte. Rosette tutete freundlich.
»Hallo, ich bin Vianne«, stellte ich mich vor, als ich näher kam. »Ich wohne zurzeit in dem Haus da oben.«
Der alte Mann legte sein Buch weg, und zu meiner Verblüffung sah ich, dass es gar nicht der Koran war, sondern der erste Band von Les Misérables.
»Von Ihnen habe ich schon gehört«, sagte der alte Mann. Er hatte eine etwas kehlige Stimme, und sein Akzent war eine exotische Mischung aus Midi und Medina. Dazu dunkle Augen, denen das Alter einen leichten Blauschimmer verliehen
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