Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
Das ist die Sünde, der abgewandte Blick, diese kurze verächtliche Geste. Wir hatten sie schon so oft gesehen, meine Mutter und ich: in Paris vor Notre-Dame, in Rom vor den Toren des Vatikans. Auch hier in Lansquenet ist sie mir begegnet, die Verachtung, in den Augen von Menschen wie Caro Clairmont. Ich erkenne solche Blicke sofort – die fromme Geringschätzung, die so typisch ist für die Selbstgerechten.
»Es gibt schlimmere Dinge«, sagte ich.
Ich hatte den Eindruck, dass Du’a fast ein bisschen schockiert war.
»Hat Alyssa einen Freund?«
Du’a nickte. »Sie hatte einen. Mit dem hat sie sich im Internet unterhalten. Aber dann hat ihr Vater den Computer weggenommen, also habe ich ihr erlaubt, dass sie meinen benutzt. Jedenfalls bis zum Brand.«
»Ah, ich verstehe.« Ein Internetfreund. Anouk besitzt keinen eigenen Computer. Zu Hause sitzt sie stundenlang in dem Internetcafé und chattet mit ihren Freunden – vor allem mit Jean-Loup, dem die virtuellen Medien helfen, die viele Zeit im Krankenhaus auszuhalten. »Kennt sie ihn auch im wirklichen Leben? Ist es jemand aus dem Dorf?«
Wieder nickte Du’a. »Kann schon sein. Sie hat es mir nie richtig gesagt.«
»Verstehe.« Und plötzlich verstand ich es wirklich. Die Fußballspiele auf dem Dorfplatz, die Kaffeevormittage bei Caro Clairmont, die plötzlich aufhörten. Caros abgekühltes Verhältnis zu den Einwohnern von Les Marauds, das frostige Klima, das jetzt zwischen dem Viertel auf dieser Seite des Flusses und dem Boulevard P’tit Baghdad herrscht.
In Caros Welt bedeutet Toleranz, dass man die richtige Tageszeitung liest, ab und zu Couscous isst und sich selbst als liberal bezeichnet. Aber die Toleranz geht nicht so weit, dass man seinem Sohn gestattet, sich in eine Maghrebinerin zu verlieben. Und was Saïd Mahjoubi betrifft, bei dem die Menschen geistige Orientierung suchen, ein Mann, der sich selbst über seinen Glauben definiert …
Ich überließ die Kinder ihrem Spiel. Kinder machen erstaunlich viel mit. Selbst die Acheron-Kinder entkommen dem Radar der elterlichen Vorurteile. Kinder achten nicht auf die Unterschiede, sie lassen sich schnell ablenken: ein Karton mit jungen Hunden, ein Geheimversteck in einem verlassenen Haus. Ach, wenn die Welt doch für uns alle so einfach wäre. Aber wir haben ein untrügliches Talent dafür, immer nur auf die Unterschiede zu starren. Als könnten wir uns stärker spüren, wenn wir uns von anderen abgrenzen. Auf meinen Reisen habe ich die Erfahrung gemacht, dass die Menschen überall ähnlich sind. Unter dem Schleier, dem Bart, der Soutane – die Abläufe sind immer gleich. Auch wenn meine Mutter daran geglaubt hat, ist in dem, was wir tun, keine Magie. Wir sehen mehr, wenn wir über den Tellerrand hinausschauen, über das Chaos, das die anderen wahrnehmen. Wir sehen die Farben des menschlichen Herzens. Die Farben der Seele.
Es regnete immer noch, als ich wieder ging. Die Tropfen prasselten hart auf den Boden, sie klangen wie Knallkörper im Wind. Ich weiß jetzt, was ich tun muss. Ich glaube, eigentlich habe ich es von Anfang an gewusst. Schon gleich nach meiner Ankunft, als ich sie gesehen habe, wie sie da in der Sonne stand, verschleiert, reglos bis auf die Augen, und die Menschenmenge beobachtete.
Ich nahm mein Handy und wählte eine Nummer. Doch diesmal rief ich nicht Roux an, sondern Guy, den Mann, der mir die Schokolade liefert. Meine Bestellung fiel bescheiden aus, nur ein paar Kartons mit Kuvertüre und verschiedenen anderen Utensilien. Wie meine Mutter immer sagte: An manchen Tagen hilft nur noch die Magie. Es mag keine großartige Form von Zauber sein – aber etwas anderes haben wir nicht, und ich brauche es jetzt.
Dann machte ich mich im Regen auf die Suche nach Inès Bencharki.
4
Dienstag, 24. August
In Les Marauds waren die Straßen menschenleer. Der Schwarze Autan zeigte seine ganze Macht. Der Himmel war schwefelgelb, die Regentropfen fast schwarz. Die wenigen Vögel, die sich dem Wind aussetzten, taumelten wie Zeitungspapier zwischen den Bäumen hindurch, die wie ein Schutzwall am Flussufer stehen. Die Luft roch nach Salz, obwohl das Meer über zwei Autostunden entfernt ist, und trotz Regen und Wind war es ziemlich warm. Eine unangenehm milchige Wärme, irgendwie faulig. Und aus allen Fenstern, hinter jedem Fensterladen spürte ich die wachsamen Blicke. Ein allzu vertrautes Gefühl, das ich von so vielen Stationen in meinem Leben kenne.
Hier sind die Menschen Fremden gegenüber
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