Himmlische Träume: Die Fortsetzung des Weltbestsellers "Chocolat" (German Edition)
uns verboten. Ich hab genau gehört, wie er das zu meinem jiddo gesagt hat.«
»Kannst du dir das vorstellen?«, sagte Pilou. »Ich meine, warum soll Gott sich für so was überhaupt interessieren?«
Ich sagte: »Manchmal ist es schwer zu verstehen, warum andere Menschen das glauben, was sie glauben.«
»Aber echt mal – Kuscheltiere?«, sagte Pilou. »Und Musik. Hast du gewusst, dass Musik auch eine Sünde ist? Und Tanzen und Wein und Würstchen.«
»Würstchen?«, wiederholte François.
»Ja, eigentlich alles aus der Metzgerei«, ergänzte Pilou altklug. »Aber man darf Haribo essen. Jedenfalls muslimisches Haribo. Das schmeckt genauso wie das normale, aber man kriegt es nur in bestimmten Läden, zum Beispiel in Bordeaux, und ein Beutel kostet vielleicht zehn Euro oder so.«
Pilou und die Kinder aus Lansquenet tauschten ehrfurchtsvolle Blicke beim Gedanken an muslimisches Haribo.
Ich wandte mich Du’a zu. »Wo wohnst du jetzt?«
»Bei meinem Onkel und meiner Tante.«
»Bei Karim und Sonia?«
Sie nickte.
»Und magst du deine neue Tante?«
Sie zuckte seltsam unentschlossen die Achseln. »Sie ist ganz nett. Sie sagt ja fast nichts. Alyssa war mir lieber.«
Mir fiel auf, dass sie die Vergangenheit verwendete. »War? Denkst du nicht, dass sie bald nach Hause kommt?«
Wieder das eigenartige Achselzucken. Das heißt, eigentlich zuckte sie gar nicht die Achseln, es war fast eine Pendelbewegung von Kopf und Schulter, harmonisch wie ein Gedanke und zugleich kompliziert wie eine Tanzfigur.
»Warum ist Alyssa weggelaufen?«, fragte ich sie jetzt.
Sie legte den Kopf schief. »Es war sina, sagt meine Mutter.«
Ich hätte sie gern gefragt, was für eine Art von sina, das heißt welche Sünde, ein junges Mädchen dazu bringt, sich das Leben nehmen zu wollen. Aber für Frauen gibt es sowieso immer nur eine sina. Das Wort klingt wie ein Name – ein bisschen wie eine Blume, allerdings eine Blume, die nur blüht, um die Menschen krank zu machen, und die man herausreißen muss, ehe sie sich weiter ausbreitet. Meine Mutter und ich waren nicht lang in Tanger, aber lang genug für mich, um einiges zu begreifen. Alleinstehende Mütter und ihre Kinder wurden mit Schimpf und Schande überschüttet. Selbst heute noch haben sie kaum Rechte, aber vor zwanzig Jahren hatten sie gar keine. Als Westler waren meine Mutter und ich sowieso eine Ausnahme. Die wenigsten Leute hießen uns willkommen, aber weil wir anders waren – und weil wir ihrem Glauben mit Respekt begegneten –, verfingen wir uns nicht im Netz ihrer Vorurteile. Doch die Frauen, die ihre haya verloren hatten – ein sehr komplexer Begriff, der sowohl Anstand und Sitte als auch Scham bedeutet –, konnten nicht mit Mitgefühl rechnen. Meine Mutter kannte mehrere unverheiratete Mütter. Sie wurden von ihren Familien verstoßen, durften nicht arbeiten und konnten auch für ihre unehelich geborenen Kinder keine finanzielle Unterstützung beantragen. Meine Mutter hat diese Frauen nicht näher kennengelernt, dafür war die Kluft zwischen uns und ihnen zu tief, aber trotzdem habe ich ein paar Sachen erfahren. Einer Frau hatte der Mann versprochen, dass er sie heiratet, aber als sie schwanger wurde, verließ er sie. Eine andere Frau war von mehreren Männern vergewaltigt worden, und diese Männer erklärten, sie sei eine Hure und habe es nicht besser verdient. Meine Mutter weinte, als sie das hörte – und meine Mutter weinte nicht so schnell. Das Mädchen war erst neunzehn, und als wir sie kennenlernten, arbeitete sie endlose Stunden in einer Fischkonservenfabrik. Sie schlief sogar in der Fabrik. Ihr Kind – ein Mädchen – war schon bald nach der Geburt gestorben. Sie hatte es Rashillah genannt. Meine Mutter verstand nicht, wie eine Religion, die angeblich Vergebung lehrt, sich in eine so gnadenlose Mauer aus Eis verwandeln kann, die ausgerechnet die ärmsten und schwächsten Mitglieder der Gemeinschaft ausschließt. Wir dachten, wir wären in Rom, in Paris, in Berlin, in Prag schon allen Vorurteilen begegnet, aber das war harmlos gewesen im Vergleich zu Tanger, wo die geschändeten Frauen aufgereiht vor der Moschee standen, während ihre tugendhaften Schwestern mit abgewandtem Blick an ihnen vorbeigingen, das Gesicht verschleiert, sittsam und unerbittlich.
Das ist die Sünde, sagte meine Mutter, während wir durch die heißen, hellen Straßen gingen, wo die Suks und der Muezzin unter der klirrenden, erbarmungslosen Sonne um die Aufmerksamkeit der Menschen buhlten.
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